Auch Vergessenes und Verfemtes

PLAY IT AGAIN 60 Jahre Berlinale mit 40 Filmen zu feiern scheint unmöglich. Die Retrospektive schafft es dennoch

Schaut man sich die Programme der ersten Jahre an, dann erscheint die Berlinale wie eine Fremde

VON BARBARA SCHWEIZERHOF

Der Reiz von Filmfestivals besteht darin, dass nicht alles auf der Leinwand stattfindet. Bezeichnenderweise können die wenigsten den Goldenen-Bären-Gewinner des Vorjahrs nennen, während sich viele genau erinnern, Leonardo DiCaprio nahegekommen zu sein. Nicht nur die Begegnung mit Stars macht das Festival zum Erlebnis, sondern das Drumherum.

Allein schon deshalb muss die Idee, den 60. Geburtstag der Berlinale mit einer Retrospektive von 40 Filmen zu feiern, ungenügend erscheinen. Es ist daher eine undankbare Aufgabe, die der britische Filmkritiker David Thomson als Kurator der unter dem Titel „Play it again …“ firmierenden Retrospektive übernommen hat. Auch weil 40 Filme die Spanne von 60 Jahren kaum abdecken können. Nun könnte man die Lücken kritisieren, man kann aber auch die Reihe im eigenen Kopf ergänzen, vielleicht gar in alten Programmheften stöbern.

Schnell entdeckt man dabei, dass die Berlinale schon von Anbeginn an unter Druck stand, sich mit den beiden „älteren“ großen europäischen Festivals zu messen. Spätestens seit der Terminverlegung in den Winter steht Berlin im Vergleich mit Cannes und Venedig als das Festival mit dem messbar schlechteren Wetter und den gefühlten schlechteren Filmen da. Davon abgesehen hat sich die Berlinale einige Alleinstellungsmerkmale erarbeitet. Das Etikett „Publikumsfestival“ etwa. Besondere Aufmerksamkeit für das osteuropäische Kino zu haben, das hängt der Berlinale bis heute als Ruf an, wenn sie dem auch in den letzten zehn Jahren kaum noch gerecht wurde. Und schließlich ist da noch das Stichwort vom „politischsten“ der Festivals, das auch Direktor Dieter Kosslick in Abständen bemüht. Vor allem, wenn die vielversprechenden Namen wieder ausbleiben. Dabei ist die „politische“ Identität der Berlinale nicht ihre beste Seite. Zum einen, weil das Festival in letzter Zeit eher dafür berüchtigt ist, „engagierte“, aber misslungene Filme hervorzuheben. Man denke nur an John Boormans Südafrika-Schmonzette „Country Of My Scull“ von 2004 oder auch an „Bordertown“ von 2006, in dem Jennifer Lopez gegen Verbrechen an mexikanischen Frauen einschreitet.

Und das sind noch die „harmlosen“ Seiten des „Politischseins“. Zu den weniger harmlosen gehören Einmischungen, die die „Skandalchronik“ des Festivals füllen. Angefangen von der verpatzten Einladung an Orson Welles 1952, als gewisse Kreise dessen Film „Othello“ nicht im Programm sehen wollten, weil der Regisseur „antideutsche“ Bemerkungen gemacht habe, bis weit über das Jahr 1980 hinaus, als auf Betreiben der Sowjetunion die Filme „Ninotschka“ und „Eins, zwei, drei“ aus der Billy-Wilder-Hommage genommen wurden.

Das alles weist zu jener Besonderheit, in der die Berlinale sich tatsächlich von Cannes und Venedig unterscheidet: Das Festival hat in seinen 60 Jahren extreme Wandlungen durchlaufen. Schaut man sich die Programme der ersten Jahre an, dann erscheint die Berlinale wie eine Fremde. Dieses „Schaufenster des Westens“ mit seinen umjubelten Hollywoodstars, den verbilligten Tickets für DDR-Bürger bei gleichzeitiger Abschottung gegen Filmteilnahmen aus dem Osten ist das glatte Gegenteil von der Berlinale der 80er-Jahre, die sich mit Filmen aus Osteuropa das Renommee einer Brücke zwischen Ost und West aufbaute und gleichzeitig unter dem chronischen Mangel an amerikanischen Stars litt. Die Berlinale der 60er-Jahre hat dagegen schon vertraute Züge. Auf den damaligen Gästelisten standen Jean-Luc Godard und Roman Polanski, die bis heute das Festival besuchen. Ein anderer vertrauter Zug findet sich in den Presseberichten: Es wurde viel geschimpft, besonders auf die deutschen Filme.

Die goldene Ära der 80er

Es ist kurios, aber im Gegensatz zu den 60ern erscheinen die 70er wieder fremd. Ein Jahrzehnt, an dessen Anfang und Ende die beiden größten Skandale liegen, die die Berlinale erlebt hat: 1970 führte der Streit über Michael Verhoevens Film „OK“ zum Abbruch des Festivals; die Jury hatte gefordert, den Antivietnamkriegsfilm zurückzuziehen. 1979 verließen die osteuropäischen Delegationen aus Protest gegen den als antivietnamesisch empfundenen „Deer Hunter“ von Michael Cimino das Festival. Beide Skandale gehören heute zur Festivalidentität. Retrokurator David Thomson musste bereits Kritik dafür einstecken, dass er „Deer Hunter“, aber nicht „OK“ in seine Reihe aufgenommen hat. Aber man muss fast Historiker sein, um heute zu verstehen, worin der Affront von Ciminos Film bestand.

Auch der Skandal selbst gehört in ein zeitspezifisches Gefüge: Nach langem Tauziehen hatte erst 1974 die Sowjetunion eine Einladung zur Teilnahme angenommen; 1977 gab es den Goldenen Bären für Larissa Shepitkos Kriegsdrama „Der Aufstieg“: der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Von nun an leistete das osteuropäische Kino in Berlin seinen Teil dafür, dass sich die 80er-Jahre zu einer Goldenen Ära entwickelten.

Nach dem Mauerfall kam der nächste große Bruch. Im Wechsel von der „Frontstadt“ zur Hauptstadt ging der Berlinale ein Stück ihrer Identität verloren. Im Nachhinein erkennt man den Prozess der „Normalisierung“. Und außerdem: So schlecht kann es nicht gewesen sein, schließlich gab es Filme wie „The Big Lebowski“ und „Jackie Brown“! Trotzdem kehrte erst 2002, als Dieter Kosslick den kritisierten Moritz de Hadeln ablöste, bessere Stimmung ein. Kosslick verhalf dem deutschen Film zu Festivalehre.

Wie soll man eine solche Geschichte in einer Retro mit 40 Filmen darstellen? Man muss die Eleganz bewundern, mit der David Thomson vorgeht: Seine Auswahl will nicht repräsentativ sein, sondern mischt Chronik, Vergessenes und Verfemtes. Stephen Frears’ „Mary Reilly“ steht als Beispiel für Letzteres. Und erinnert den Festivalbesucher daran, dass man nicht nur wegen der Filme zur Berlinale geht, sondern auch wegen der Aufregung drum herum. Und plötzlich sitzt Goldie Hawn vor einem. Bleibt nur eins: wieder hingehen.