WARUM DAS VERFAHREN GEGEN ORHAN PAMUK EINGESTELLT WURDE
: Türkischer Seiltanz

Zunächst die gute Nachricht: Das Verfahren gegen Orhan Pamuk ist eingestellt worden. Jetzt die schlechte: der große Durchbruch für die Meinungsfreiheit in der Türkei ist das noch nicht. Von etlichen Journalisten, Schriftstellern oder Professoren, die derzeit aufgrund von Meinungsäußerungen angeklagt sind, ist Pamuk nur der international bekannteste. Entsprechend groß war der Druck aus dem Ausland. Doch Justizminister und Gericht haben es geschickt vermieden, ihn freizusprechen und damit ein Präjudiz für die anderen Prozesse zu schaffen. Stattdessen wurde sein Verfahren aus formalen Gründen eingestellt.

Damit hat die türkische Regierung zwar den Forderungen aus Brüssel nachgegeben. Sie widersetzt sich aber weiter hartnäckig der Erwartung, das gerade erst reformierte Strafrecht doch bitte schön noch einmal zu korrigieren, damit Anklagen wie die gegen Pamuk zukünftig erst gar nicht mehr möglich sind.

Sowohl der Justizminister als auch Ministerpräsident Erdogan haben solche Forderungen bereits als unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten schroff zurückgewiesen. Das erst vor einem halben Jahr frisch reformierte Strafrecht solle sich nun erst einmal in der Praxis bewähren.

Hinter dieser Haltung verbirgt sich einerseits die Einstellung auch vieler Abgeordneter der Regierungspartei, dass solche „Nestbeschmutzer“ wie Pamuk durchaus bestraft gehören. Da will sich Ministerpräsident Erdogan nun nicht dem Vorwurf aussetzen, er mache sich zum Erfüllungsgehilfen der EU. Denn die ist im Moment ganz und gar nicht beliebt in der Türkei, weil aus Berlin, Paris und Wien ganz unverhohlen die Botschaft kommt: wir wollen euch sowieso nicht dabeihaben.

Umso wichtiger ist es, dass die Solidarität, die Orhan Pamuk erfahren hat, in den kommenden Monaten auch den anderen türkischen Intellektuellen, die am Pranger stehen, entgegengebracht wird. Letztlich wird die Meinungsfreiheit vor allem im Land selbst erkämpft. Wenn von europäischen Institutionen keine Unterstützung mehr zu erwarten ist, wird die Solidarität ausländischer Kollegen und Freunde um so wichtiger.

JÜRGEN GOTTSCHLICH