Black Flag im SO 36 und Hilfstransporte nach Serbien
: Das Gute an der DDR war, dass es keine DKP gab

VON SONJA VOGEL

Heut hab ich frei, und darum nehme mir auch die Freiheit, schon am Vormittag ins Büro zu fahren, um zuerst den Mittagstisch abzustauben und dann pünktlich zum Sektempfang im Gewölbekeller des Mehringhofs zu erscheinen. Der Keller ist neu, das Inventar ist alt. An der abgeschliffenen Steinwand hängt ein Kreuzberger Relikt, ein Konzertplakat von 1983: Black Flag, SO 36, 29.2., VK 12 DM, AK 15 DM. Fünfzehn Mark für ein Konzert vor 30 Jahren, das sind doch fast …? Ich schüttle den Kopf, als ein leeres Sektglas an meinem Kopf vorbei an die Wand fliegt. Der Werfer springt jauchzend hinterher, um sogleich die Scherben aufzukehren. Punk ist auch nicht mehr, was er mal war. Und vom vielen Sekt habe ich schon etwas Sodbrennen.

Am Abend bin ich auf einer Motto-Party eingeladen. Auf eine solche Einladung wartete ich jahrelang genauso inbrünstig wie vergeblich. Das Motto: Seniorinnen. Wie passend. Im Kreuzberger Hinterhof lodert ein Feuer, das die steifen Glieder der Partygäste wärmen soll. Es stehen etwa genauso viele Seniorinnen in geschmacklosen Jacken, geblümten Kopftüchern und furchtbaren Handtäschchen herum wie herrenloser Sekt (halbtrocken). Ich stelle mein Sixpack, sechs Piccolo-Fläschchen im praktischen Trägerlein, ab und lasse den Schraubverschluss knacken. Lässt man sich auf den Sofas im Hof nieder und legt den Kopf weit zurück, kann man in der kleinen Öffnung des Häuserquadrats den Mond zwischen den Wolken sehen.

Dann holen mich meine Jugendsünden ein. Ein ehemaliger Kollege erzählt, wie er vor 14 Jahren mit drei weiteren jungen Leuten mit einem Hilfstransport der DKP nach Serbien reiste. Auf dem Kleintransporter ein riesiger Aufkleber der Jungen Welt. Alle lachen. Ich auch. Aber die Geschichte kommt mir bekannt vor. „Das Gute an der DDR war, dass es keine DKP gab“, kalauert jemand, als mir – oh Schreck! – klar wird: Ich war damals dabei. Ich exe den Piccolo und bekenne mich. Kurz starren wir uns mit offenen Mündern an. Dann gehe ich schnell tanzen.

Man spielt „Our House“, aber das ist jetzt auch egal. Stunden später bin ich allein mit der DJane. Endlich Elektro, endlich Musik für jung Gebliebene. Vor Freude zapple ich so wild, dass sich eine Haarsträhne im Scharnier des Brillenbügels verklemmt (noch nie zuvor passiert!), dann rutscht mir die Brille ganz von der Nase. Als ich gerade auf allen Vieren auf der Tanzfläche hocke, beugt sich ein Freund zu mir herab. „Tschüß“, sagt er bloß.

Irgendwie muss ich mir dabei das Bein verrenkt haben, merke es aber erst auf dem Heimweg, mitten im Niemandsland. Am Kanal ist es trotzdem wunderschön, leer und still. Die leichte Brise zerstreut den Geruch von fauligem Wasser und aufgeweichter Hundescheiße. Die Hand in die Hüfte gestemmt, humple ich langsam nach Hause, während mich leichtfüßig die ersten Jogger überholen.

Als ich am Nachmittag wieder aufwache, bin ich krank. Der Nacken steif, die Ohren dröhnen. Über meinem Kopf und vor dem Fenster: dunkle Wolken. „Du warst die ganze Nacht tanzen?!“, fragt eine Freundin vorwurfsvoll im Chat. „Kein Wunder!“ Sie sitzt irgendwo in einer hell erleuchteten Bibliothek und wäre sicher lieber anderswo. Auf einer schummrigen Tanzfläche zum Beispiel. Ich schmolle. Was bleibt mir anderes, als mich mit meiner Situation abzufinden? Schließlich habe ich frei.

Ich beginne schon mal Teebeutel, Ingwerreste und den Medikamentenvorrat zu sortieren. Für alle Fälle. Die Frage, ob ich nun zum Seifenkistenrennen nach Kreuzberg oder zur Monster-Truck-Show nach Britz gehen würde, hat sich erledigt. Welche Seniorin geht schon zu Seifenkistenrennen?