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Archiv-Artikel

Zwei Straßen, eine Kirche

Damelack Was Dorfkultur mit Disziplin zu tun hat und die amerikanische Verfassung mit Brandenburg

„Es gibt wenige Kinder, aber die haben einen großen Spielplatz auf dem Kirchhof“

Es gibt eine Geschichte, die erzählt, wie einmal ein Dorfbewohner nicht zu Hause war, als ein Unwetter heraufzog, das die ganze Ernte vernichtete. Als er nach Hause zurückkehrte, war das Heu auf seinen Wiesen nicht nur abgemäht, sondern lagerte bereits fein säuberlich auf seinem Heuboden. Er bedankte sich bei seinen Nachbarn, die zusätzlich zu ihrer Ernte auch noch die seine geschultert hatten, mit einer Kiste Bier für alle. Nach einem geselligen Abend ging jeder wieder nach Hause, und bei den vielen gemeinsamen Ernten der folgenden Jahre redete man nicht weiter darüber.

Ein Fleckchen Erde

Zugegeben, die Geschichte ist nicht in diesem Sommer passiert, sondern vor ungefähr dreißig Jahren. Aber sie wurde in diesem Sommer erzählt, weil sie so jederzeit wieder passieren könnte in dem Ort, in dem sie sich zugetragen hat. Erzählt hat sie einer, der damals ein Kind war und heute immer noch an jenem Ort lebt. Aus beruflicher Perspektive wäre er vielleicht in der Stadt oder im Ausland besser aufgehoben, aber sein Lebensmittelpunkt bleibt ein Dorf namens Damelack.

Damelack ist ein idyllisches Fleckchen Brandenburger Erde in der Ostprignitz. Ein historisches Runddorf mit zwei Straßen und einer Kirche in der Mitte, deren Erhalt und Pflege sich die vereinsverrückteren unter den rund einhundertzwanzig Einwohnern verschrieben haben. Es gibt wenige Kinder, aber die haben einen großen Spielplatz auf dem Kirchhof. Es gibt keine Läden und keine Gaststätte, aber dafür werden im Vereinshaus Kinofilme an die Wand projiziert.

Verwaltungsrechtlich gehört man längst zum Nachbarort Breddin, die Wirtschaftsflaute nach der Wende war auch hier hart zu spüren, doch für die Damelacker gilt: Man muss nicht hier geboren sein, aber man bleibt. Die Zuziehenden wissen das, und die meisten nehmen die Einbürgerung dankbar an. Nur einem von ihnen war der Ausstieg von Berlin nach Damelack noch immer nicht genug – er ging nach Südamerika. Anders als der ältere Herr aus der Schweiz, der seit einundzwanzig Jahren mehrmals im Jahr zur Rotwildjagd anreist, dann stets beim Vorsitzenden des Dorfvereins logiert und nur eine Sorge hat: während seines Aufenthaltes nicht alle Einladungen zum Essen zu schaffen. Letztes Jahr, zu seinem zwanzigsten Damelack-Jubiläum, gab es ein großes Fest im Dorf.

In Damelack wird deutlich, dass Dorfkultur individuell ist. Hier ist sie zu einem nicht unbeträchtlichen Teil ein Relikt aus DDR-Zeiten. Keiner kann alles haben, deswegen wird geteilt. Man ist aufeinander angewiesen. Natürlich bringt das bedingungslose Miteinander auch Ambivalenzen mit sich. „Zwei Dinge können wir nicht so gut: überschwenglich loben und bitten“, sagt der Geschichtenerzähler, der nicht wegziehen will. Vielmehr muss man hier ehrlich sein, sich einander offenbaren.

Der Berliner, der die Freiheit des Anonymen schätzt, kann für sich entdecken, wie viel Freiheit die Bindung an die Dorfgemeinschaft bietet. Es ist ein bisschen wie in der amerikanischen Verfassung: Der Wunsch, das Glück der Freiheit für die Nachkommen zu bewahren, treibt die Gründerväter der Damelacker Handlungsmaxime seit Jahrzehnten an. Wer dazukommt, muss mitziehen. Und muss lernen, dass die eigene Freiheit sich oft auch im Gegenüber findet. Wer zum Beispiel kein eigenes Auto hat, kann darauf vertrauen, gefahren zu werden. Diese Gemeinschaft ist sich selbst genug, weil jeder so sein darf, wie er ist – solange er auch dem anderen dabei hilft.

Dazu passt, dass die Kirche in der Dorfmitte der Ort ist, an und um den herum Gemeinschaft stattfindet – die Religion steht hier eher im Hintergrund. Wegweisend nicht nur für andere Dorfgemeinschaften, sondern auch für Berliner, liebevoll „Buletten“ genannt, und überhaupt alle Städter, die nach dem ersten Schub naiver Landromantik wirklich den Schritt hinein in eine intakte Dorfgemeinschaft wagen.

Und was den Damelackern zu ihrem perfekten Glück noch fehlt? Dass der letzte Zug aus Berlin noch ein Stündchen später fährt. Für die kleine Landflucht ab und an. JOHANNA ROTH