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Archiv-Artikel

„Staat schützt seine eigene Brut nicht“

Stadt und Land lügen hemmungslos über die Gefahren von Gift in Schulen, sagt Chemiker und Gutachter Tino Merz

taz: Warum wehren sich die Städte gegen eine Sanierung? Ist das nur die Angst vor hohen Kosten?

Tino Merz: Das ist nicht nur Geiz, sondern politisch gewollt. Ein Beispiel: Die Grünen haben im Nideggener Rat beantragt, regelmäßig die Klassenräume zu lüften. Das kostet nichts. Aber sie wurden im Rat von allen anderen Parteien niedergestimmt. Die PolitikerInnen haben keine Traute, ignorieren das Problem, stellen sich taub und dumm. Aber was ist da los, wenn ein Staat seine eigene Brut nicht schützen kann?

Viele Eltern glauben Ihren Gutachten auch nicht.

Da sind riesige Verdrängungsmechanismen am Werk. Die Eltern wollen es einfach nicht glauben, wollen nicht sehen, dass ihr Kind unter Kopfschmerzen und Allergien leidet. Dann müssten sie nämlich handeln, ihr Kind von der Schule nehmen, das ist alles sehr aufwändig und nervenaufreibend.

Lohnt sich denn der Aufwand? Bei einer Sanierung müssten die SchülerInnen verfrachtet werden oder in Zelten lernen.

Natürlich lohnt sich das! Es ist ein Verbrechen, dass die Schule in Nideggen nicht geschlossen wurde, die Kinder leiden, Lehrer leiden, permanent liegt einer auf der Pritsche.

Schüler haben doch immer mal Kopfweh.

Ja, die Symptome einer so genannten toxischen Endophalie sind die selben wie bei Liebeskummer, Alkoholexzessen oder schlechter Ernährung. Aber diese ungesunden Verhaltensweisen können sie selbst beeinflussen, nicht aber, jeden Tag sechs Stunden in verseuchten Zimmern zu sitzen. Es gibt große internationale Studien an Arbeitern wie KFZ-Mechanikern, die die verheerende Wirkung dieser Stoffe auf das Immunsystem beweisen. Das ist längst anerkannt. Es dominiert der politische Wille, nicht die Wissenschaft.

Gibt es denn niemanden in der Politik, der sich um die Giftschulen kümmert?

Nein, da gibt es Seilschaften die von schwarz bis gelb über rot und grün reichen. Selbst der ehemals grünen Umweltministerin Bärbel Höhn, die sich für ihren Einsatz für den Verbraucherschutz gerühmt hat, waren irgendwelche Tiergeschichten wichtiger. Sie alle sind sich im Grunde einig, dass sie die verheerenden Folgen des Gifts nicht anerkennen wollen.

Es gibt auch Gutachter, die die Werte unbedenklich finden. Die haben doch nicht alle Paranoia.

Natürlich steckt auch Kalkül dahinter. Der Städtetag hat einmal vermutet, mindestens 5.000 Schulen in Deutschland haben mit Altlasten zu kämpfen. Jede Kommune fürchtet nun, einen Präzedenzfall zu schaffen.

Was würde dann passieren?

Dann könnten 15.000 chronisch kranke Lehrer und 100.000 geschädigte SchülerInnen auf ihr Recht pochen, Schmerzensgeld einklagen, neue Gebäude oder die Sanierung der Alten fordern. Da wären große Geldmengen gefordert. Trotzdem bleibt dem Land keine andere Möglichkeit.

INTERVIEW: ANNIKA JOERES