Psychokulturelle Zustandsbeschreibung

BERLINROMAN „Wir sind halt Ossis“. Nellja Veremej, vor zwanzig Jahren aus Russland eingewanderte Wahl-Berlinerin und ihr Debütroman „Berlin liegt im Osten“. Nicht gesehen zu werden, gehört zu ihrem Handwerk als brillante Beobachterin der Stadt

Den Titel „Autorin“ tragen zu dürfen, genieße sie schon sehr, sagt sie zum Schluss etwas selbstironisch

VON KATHARINA GRANZIN

Berlin Alexanderplatz. Da steht sie, eine eher kleine Frau in dezentem grauem Rollkragenpullover und dunkler Jacke. Beobachterinnenkluft. Sehen, nicht gesehen werden ist ihr Handwerk. Unter anderem arbeite sie manchmal auch als Stadtführerin, hat sie nebenbei erwähnt, auf dem Weg von der Torstraße, wo ihre eigene Wohnung liegt, bis hierher zum Alexanderplatz, in dessen unmittelbarer Nähe die Hauptfigur ihres Romans in einem Plattenbau wohnt.

So hat sie es sich beim Schreiben jedenfalls vorgestellt. Nellja Veremej kennt diese auf den ersten Blick so unwirtliche innenstädtische Gegend so gut wie wahrscheinlich kaum jemand. Sie registriert jede Veränderung, jede Verschiebung des Zustands von Fassaden, Geschäften und Straßen. Das ist vermutlich auch eine Spätfolge des Romans, den sie geschrieben hat, und der Arbeitsweise, von der sie sich dabei leiten ließ.

Von Döblin inspiriert

Die Lektüre von Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ habe vor Jahren bewirkt, dass sie sich „schwer auf den Kopf geschlagen“ gefühlt habe, erklärt sie. Döblin habe die Stadt auf einzigartige Weise beschrieben. „Was mich am meisten interessiert, sind diese ganz kleinen Dinge: Wie die Menschen sich bewegen, was sie verkaufen, was eine Fahrkarte kostet.“ Sie habe aus heutiger Sicht etwas Ähnliches machen wollen, „dabei die Augen schärfen“.

Beim Überqueren der Memhardstraße zeigt sie auf ein etwas weiter entfernt gelegenes Gebäude, von dem in ihrem eigenen Roman wiederholt die Rede ist; ein so gesichtsloses großes Bürohaus, das sich jedoch bis vor wenigen Jahren noch von anderen dadurch unterschied, dass auf seiner Fassade Zitate aus „Berlin Alexanderplatz“ zu lesen waren. „Und gerade als ich mit meinem Roman fertig war, wurden die Buchstaben abmontiert“, so Veremej. „Ich hätte das noch fotografieren sollen.“

Auf dem Cover von Veremejs Debütroman prangt ein Foto des Fernsehturms, Symbol schlechthin für das frühere Ost-Berlin, Hauptstadt der DDR. Ins Zentrum des Bildes hat sich nicht minder symbolisch ein Baukran geschoben. Der Romantitel „Berlin liegt im Osten“ ist nicht nur geografisch, sondern vor allem programmatisch zu verstehen: als psychokulturelle Zustandsbeschreibung.

„Wir sind halt Ossis“, heißt es an einer Stelle, da die Ich-Erzählerin Lena, eine gebürtige Russin, die in Berlin als Altenpflegerin arbeitet, über sich und ihre besondere Beziehung zu einem ihr anvertrauten alten Mann erzählt. Mit Herrn Seitz, einem ehemaligen Journalisten einer Ostberliner Zeitung, verbindet sie, wie es im Roman heißt, „dass er, wie ich, ein Fan der Kosmonauten war, und nicht der Astronauten, und dass er auch nicht an die Mondlandung der Amerikaner glaubte. Dass wir beide zu den Menschen gehören, die es empörend finden, wenn jemand Maxim Gorki nicht gelesen hat, oder das Wort Chatschaturjan nicht aussprechen konnte.“

Im Übrigen liegt auf dem Nachttisch von Ulf Seitz ein zerlesenes Exemplar von „Berlin Alexanderplatz“. Und so hat „Berlin liegt im Osten“ zwei Hauptfiguren, oder vielleicht auch eine Art doppelter Hauptfigur: Lena, die Ich-Erzählerin, und den netten alten Herrn Seitz, deren Leben erzählend ineinander gespiegelt werden. „Leben“ ist so etwas, das in Veremejs Roman sehr deutlich spürbar wird als ein den Zeitläuften unterworfener Vorgang, eine Abfolge von flüchtigen Zuständen. Das gilt für das Leben der Figuren ebenso wie für das Leben der Stadt, und es macht jede Zustandsbeschreibung kostbar.

Das Gefühl für die Bedeutung auch scheinbar unscheinbarer Details ist deutlich spürbar in Nellja Veremejs Erzählen, dessen gleichsam flanierender, vorübergehender Gestus dieselbe Haltung ganz automatisch auch in der LeserIn weckt: eine entspannte Wachsamkeit und gesteigerte Aufmerksamkeit für die kleinen Dinge, verbunden mit der steten Bereitschaft, sich weiterzubewegen zum nächsten Schauplatz, oder auch zu einem anderen Punkt in der Zeit. Zum Beispiel von Lenas jetzigem Berliner Großstadtleben immer wieder zurück in ihre Kindheit und Jugend, verbracht in einer russischen, damals noch sowjetischen, Provinzstadt. Oder immer wieder zurück in die Vergangenheit des alten Herrn Seitz, der in seiner Wohnung in der Torstraße miterleben musste, wie die Mutter nach dem Krieg von russischen Soldaten vergewaltigt wurde, und dessen werktätiges Erwachsenenleben in der DDR in der Rückschau wie ein einziger Anachronismus erscheint.

Porträts lebender Personen

Die Szenen aus der sowjetischen Provinz seien mehr oder weniger autobiografisch, sagt Veremej. Und erklärt weiter, dass sie auch sonst viel von ihren eigenen Erfahrungen und Beobachtungen in den Roman übernommen habe. Die meisten Nebenfiguren seien Porträts lebender Personen, die sie irgendwann getroffen habe. Aber natürlich sei sie selbst nicht Lena. Und die männliche Hauptfigur, den adrett-korrekten alten Herrn Ulf Seitz, über den es im Roman heißt, er sei so, „wie wir uns einen Deutschen vorstellen“, den habe sie erfunden, oder vielmehr, wie sie erläutert, „aus mehreren Personen zusammengestellt. Er ist eine Art Frankenstein-Figur. Ich habe mir natürlich schon etwas Sorgen gemacht, dass er zu papieren wird.“ Was zum Glück ganz und gar nicht der Fall ist. Der alte Herr ist wirklich reizend.

Nellja Veremej ist erst als Erwachsene, nachdem sie ihr Studium der russischen Philologie beendet hatte, nach Deutschland gekommen. Die Aufbruchstimmung, die in den neunziger Jahren in den Kreisen der jungen russischen Intellektuellen herrschte, beschreibt sie als „Rausch ohne Ende. Alle wollten weg, egal wohin.“ Veremej landete in Berlin und verdiente ihr Geld zunächst als Russischlehrerin („Damals wollten alle Russisch lernen. Gorbatschow, Gorbatschow!“) und schlug sich im Laufe der Jahre mit den verschiedensten Jobs durch. Dass sie etwa das Metier der Altenpflege aus erster Hand kennt, merkt man ihrem Roman deutlich an. Und ganz sicher haben die Erfahrungen als Stadtführerin ihren Blick auf Berlin geprägt. In den neunziger Jahren, habe sie schon einmal einen Roman geschrieben, auf Russisch, den wollte aber niemand.

Heute, etwa zwei Jahrzehnte später, ist aus der mittlerweile 50-jährigen Nellja Veremej nicht nur eine veröffentlichte, sondern gleich eine hochgelobte Autorin geworden. Dazu noch eine deutschsprachige. Dabei hat sie erst nach zehn Jahren in Berlin überhaupt angefangen, auf Deutsch zu lesen. Sie ist mit einem Deutschen verheiratet, doch der spricht gut Russisch.

Doch irgendwann begann sie auf Deutsch zu schreiben, machte ein journalistisches Aufbaustudium. Sie schrieb Texte für den Freitag, wo man ihr früher die Freiheit gab, aus Alltagsbeobachtungen essayistisch-literarische Texte zu machen. Mit denen gewann sie beim österreichischen Wartholz-Literaturwettbewerb im Jahr 2010 den Publikumspreis sowie den Preis für die beste Newcomerin.

Danach sei sie überredet worden, einen Roman zu schreiben. Den Titel „Autorin“ tragen zu dürfen, genieße sie schon sehr, sagt sie zum Schluss noch etwas selbstironisch. Und auch auf die Frage, ob sie selbst denn eigentlich an die Mondlandung der Amerikaner glaube, gibt die Autorin von bald zwei Romanen – etwa zweihundert Seiten des nächsten sind, wie sie gesteht, schon fertig – eine entwaffnend offene Antwort. Es gebe Tage, da fühle sie sich „total aufgeklärt“, und es gebe andere, an denen „ich total als Ossi ticke. Es ist, als ob zwei Menschen in mir wohnen.“ Zwei Menschen immerhin, die eine sehr produktive literarische Beziehung miteinander pflegen.

Nellja Veremej: „Berlin liegt im Osten“, Jung und Jung, Salzburg/Wien 2013. 318 S., 22 Euro