VOM TYP V200, DEN SPÄTEN SIEBZIGERN UND ZENGÄRTEN MIT BILLIGFLIEGER-ANSCHLUSS
: Die falsche Lokomotive wird uns zerreißen

VON DIEDRICH DIEDERICHSEN

Als ich klein war, kannte ich mich nur mit einem aus: Eisenbahnen. Dann gab es im Fernsehen „Die Gentlemen bitten zur Kasse“, einen Dreiteiler über den berühmten britischen Postraub. Als noch nicht Achtjähriger musste ich mit ansehen, dass die Lokomotive des überfallenen britischen Postzugs eine deutsche Diesellok des Typs V200 war. Ein schrecklicher Vertrauensbruch der Bewegtbildmedien.

Ich regte mich auf wie ein Feuilletontrottel über abgeschriebene Passagen – aber natürlich mit mehr Recht. Kam allerdings nicht auf das Naheliegende. Die Lok sollte nicht zur Wirklichkeit passen, sondern zum Hauptdarsteller: als Partnerin von Horst Tappert. Dieses Trauma wurde aufgerissen, als ich Helke Sanders „Redupers“, der im Rahmen des Forum-Jubiläums läuft, wieder sah: ein legendärer feministischer Essay-Spielfilm über das Leben einer Pressefotografin mit künstlerisch-politischen Ambitionen im Westberlin der späten 70er.

Späte 70er heißt hier etwas anderes als in drei Millionen Rückblicken: kein Iggy Pop, kein Dschungel, kein Foucault, kein Kippenberger, überhaupt kein Nachtleben, vor allem keine Hipness. Ein Fotoprojekt wird nicht aus der schrillen Persönlichkeit entwickelt, sondern von den Frauen wohlüberlegt und langatmig ausdiskutiert. Alle sind lakonisch bis dröge. Sie interessieren sich für Häuserwände und Mauern, und tatsächlich sind die alle vollgeschrieben, aber wieder: ganz ohne Graffiti-Style. Es sind reine, inhaltlich bestimmte Slogans – ohne bubbly Buchstaben und idiotische Individualität. Unglaublich.

Einmal hat die Pressefotografin den Job, die letzte DDR-Dampflok, die einen Interzonenzug nach Hamburg zieht, zu fotografieren und lümmelt mit zwei Kollegen an einer günstigen Stelle zum Eisenbahnfotografieren. Müsste das heutige Regierungsviertel sein. Dann kommt ein Zug und sie beschwert sich, dass das wieder eine Elektrolok sei, dabei ist klar zu erkennen, dass es sich um die sogenannte Taigatrommel handelt, eine traditionsreiche Diesellok.

Von Helke Sander zu Angela Schanelec und ihrem „Orly“. Auf dem gleichnamigen Pariser Flughafen, dessen Betriebsamkeit wie ein Zengarten mit Ornamenten aus Menschenkontingenz behandelt wird – John Cage meets Vicki Baum –, kommen zwei ins Gespräch. Er will nach San Francisco fliegen, sie nach Montreal.

Auch das ist Bullshit: Man kann von Orly aus nicht nach San Francisco fliegen, die Maschinen gehen alle von Charles De Gaulle/Roissy. Okay, nach Montreal gibt es zwar einmal die Woche eine Billigverbindung mit Corsair, aber wer fliegt bitte mit Corsair?

Macht aber nichts. Kleine Ungenauigkeiten im Umgang mit der Wirklichkeit, die nur auffallen, weil beide Filme massiv Wirkliches mobilisieren. Es sind nicht Planungsirrtümer, sondern Irrtümer in der Wirklichkeit wie die Fehleinschätzung der Eis-Matsch-Legierung in Berlin, die jeden Tag ausländischen Filmkritikern zu gefährlichen Kontakten mit dem Medium Bürgersteig verhilft. Kleine Strauchler von Filmen, die sich in Gefahren begeben, die der übliche Narrationsmist gar nicht mehr kennt.

Nur das Beabsichtigte, das unbeabsichtigt aussehen soll, kann einen stören. In „Orly“ steht am Anfang das Cover der Joy-Division-Single „Love Will Tear Us Apart“ im Bild, das Wort „Love“ ist abgeschnitten. Uff! Doppeluff!

In „Beautiful Darling“, der Dokumentation zum Leben von Candy Darling, sieht man hinter einer Zeitzeugin auf einem Buchrücken das Wort „Nazi“. Das ist bei diesem unehrgeizigen Film ein Zufall, aber die nächste Aussage derselben Frau ist anders kadriert und wir lesen: „Nazi-Germany and the Jews“. Ich bekam einen Schreck.