„Die Leute sind im System verloren“

BRUTALITÄT Ein Gespräch mit Rafi Pitts über seinen Film „Zeit des Zorns“ (Wettbewerb), über sein Land Iran, das den Menschen die Gefühle raubt, über grüne Autos und eine Katze, die Bullet heißt

■ wurde 1967 im Iran geboren und verbrachte seine Jugend in Teheran. Mit sieben spielte er zum ersten Mal in einem Spielfilm mit. Während des Irak-Iran-Krieges floh er mit seiner Familie nach London.

■ Seinen ersten Kurzfilm drehte er 1991, anschließend arbeitete er als Regieassistent, unter anderem für Jean-Luc Godard und Jacques Doillon.

■ Sein letzter Spielfilm „The Winter“ (2006) lief wie „Zeit des Zorns“ im Wettbewerb. Pitts lebt heute wieder in Teheran.

INTERVIEW INES KAPPERT

„Zeit des Zorns“ erzählt die Geschichte von Ali, der als Nachtwächter in Teheran arbeitet. Als er eines Tages nach Hause kommt, sind seine Frau und seine Tochter verschwunden. Die Polizei teilt ihm mit, seine Frau sei erschossen worden, wo die Tochter sei, wisse man nicht. Ali macht sich auf die Suche und beginnt irgendwann Polizisten zu jagen. Die wiederum machen daraufhin Jagd auf ihn. taz: Herr Pitts, die „New York Times“ berichtete unlängst, dass es im Iran nun auch zu vielfachen Verhaftungen von kritischen Künstlern und Intellektuellen kommt. Sie haben Ihren Film in Teheran gedreht – war es schwierig, eine Erlaubnis zu bekommen?

Rafi Pitts: Wir haben die Dreherlaubnis etwa sechs Monate vor den Präsidentschaftswahlen im letzten Juni bekommen. Das war harte Arbeit, aber irgendwie haben wir es geschafft. Meine Filme handeln vom Iran, und ich möchte sie unbedingt auch dort zeigen. Daher halte ich mich an die Regeln. Ich will auch gar keine einfache Botschaften gegen irgendwen abgegeben. Für mich geht es in erster Linie darum, Fragen zu stellen. In meinem Land werden ohnehin viel zu viele Botschaften verkündet.

Sie zeigen in „Zeit des Zorns“ eine extrem brutalisierte Gesellschaft.

Als wir zu drehen anfingen, wurde die Stimmung im Iran immer angespannter. Diese Atmosphäre hat unseren Film geprägt. Dabei wollte ich Leute zeigen, die im System verloren sind. Auch die beiden Polizisten, die Jagd auf die Hauptfigur machen, sind nicht einfach böse, sondern vor allem ohne Orientierung. Ebenso wie unsere Regierung. Sie ist nicht einfach nur schlecht, sondern vor allem paranoid. Und das kann man sogar verstehen. Unmittelbar nach der Revolution von 1979 griff der Irak den Iran an, unterstützt vom Westen und von den Golfstaaten. Eine Million Menschen starben während dieses Krieges. Das bringt Verfolgungswahn ins System.

Gleichzeitig ist die Bevölkerung im Iran extrem jung. Für die Mehrheit dürfte der Krieg doch vor allem Geschichte sein.

Richtig. Siebzig Prozent sind unter dreißig Jahre alt. Sie wollen einfach ein normales Leben leben und die Freiheit haben, eigenständig zu denken. Deshalb prallen jetzt Paranoia einerseits und der Wunsch zur Freiheit andererseits aufeinander. Es kann sehr gewalttätig werden. Wir bewegen uns derzeit auf einem extrem schmalen Grat.

Wo stehen Sie?

Mich interessieren beide Seiten, ich unterteile nicht in Schwarz und Weiß. Das ist der Fehler, den die Regierung im Moment macht.

Auch Ihre Hauptfigur ist so ein Mischwesen. Er erschießt wahllos Polizisten und steht gleichzeitig für den berechtigten Widerstand gegen die Polizeidiktatur.

Absolut. Er hat viel mit mir gemeinsam. Deswegen habe ich ihn am Ende auch selbst gespielt.

Sie hatten das gar nicht vor?

Nein, der Schauspieler kam sechs Stunden zu spät zum Set. Da bin ich eingesprungen. Ich habe im Film meine eigenen Klamotten an, das war alles überhaupt nicht geplant. Regie zu führen und zu spielen ist auch nicht gerade das Gesündeste, was man als Filmemacher tun kann. Aber als ich anfing, die Hauptfigur zu spielen, war für mich klar: Auf eine Art steht damit auch ein Filmemacher vor der Kamera, der in die Fänge des Staats gerät, obwohl er fast stumm ist.

In einer Szene wird der Held auf die Polizeistation gerufen. Und bevor er vom Tod seiner Frau unterrichtet wird, fragt man ihn nach seinem Intimleben aus.

Ja, das ist Wahnsinn. Wir haben die Szene improvisiert. Ich hatte zuvor einen Bekannten, dem Ähnliches widerfahren ist, gefragt, wie sich der Polizist in so einer Situation verhalten würde. Da der Schauspieler sich in seiner Rolle sehr unwohl fühlte, haben wir schließlich ihn gebeten, die Szene zu übernehmen.

Die Haltung des Polizeioffiziers ist zynisch, wenn nicht sogar sadistisch.

Nein, sie ist normal. Er ist ja auch im System gefangen. Unterhalb der Führungsriege führen bei uns alle ein kafkaeskes Leben.

Ihr Held fährt viel Auto. Und es ist grün.

Nachdem die Frau und das Kind fort sind, ist das Auto der einzige geschützte Ort im Leben meines Helden. Teheran ähnelt in vielem Los Angeles. Wir verbringen viel Zeit auf dem Highway. Da in meinem Film Winter ist, sind die Bäume blätterlos. Insofern ist das Auto mein Blatt. Daher musste es grün sein.

Es kommt zu einer spektakulären Autoverfolgung, bei der Sie immer nur ein Auto im Bild zeigen. Warum?

Weil ich immer die Perspektive meiner Hauptfigur einnehme. Ich wollte eine Art neorealistischen Western für die Jetztzeit machen. Wenn ich etwa die Reifen im Close-up gezeigt hätte, wessen Perspektive wäre das dann gewesen?

„Nachdem die Frau und das Kind fort sind, ist das Auto der einzige geschützte Ort im Leben meines Helden. Teheran ähnelt in vielem Los Angeles. Wir verbringen viel Zeit auf dem Highway. Da in meinem Film Winter ist, sind die Bäume blätterlos. Insofern ist das Auto mein Blatt“

Am Ende explodieren aber nicht wie sonst üblich die Autos, stattdessen überschlagen sich die Fahrer.

Ja. Alle Leute denken ja immer, sie hätten die Lösung, sie wüssten, wo es langginge. Für mich steht dieses Bild dafür: Solange Menschen das glauben, stolpern sie heillos durch die Gegend und fallen hin. Und sie hassen. Denn nur wer denkt, er wüsste alles besser, kann hassen.

Ihr Held ist ein still hassender Mörder. Die meisten Filmhelden explodieren, bevor sie mit der Gesellschaft brechen, er hingegen zieht sich immer weiter in sich zurück. Warum?

Jemand, der Menschen umbringen kann, ist kein normaler Mensch. Und jemand, der schweigt, ist sehr viel bedrohlicher als jemand, der schreit. Und richtig gefährlich wird es dann, wenn der Staat seinen Leuten die Gefühle raubt.

Der schweigsame Rächer ist eine Metapher für die Oppositionsbewegung?

Für alle Unterdrückten, ja. Er steht für alle, denen das Recht auf ein normales Leben verweigert wird und deren Wut zunimmt. Und das sind viele.

In Ihrem Film jagt am Ende jeder jeden. Nur das einzige Tier in der Geschichte, die Katze der Tochter, wird in Ruhe gelassen.

Ich mochte sie. Sie steht für Frieden. Aber auch sie heißt Bullet.