: Im Schatten der Clubs prächtig erblüht
ARME MUSIK Anti-Folk ist der wahre Soundtrack Berlins, ideal für ein Kulturprekariat, dem die Gentrifizierung im Nacken sitzt. Die Instrumente kommen vom Flohmarkt, die Bühnen sind intim und klein. Die Musik aber ist äußerst charmant und inspiriert
VON ANDREAS HARTMANN
Von Anti-Folk spricht in Hipsterkreisen heute eigentlich kaum noch jemand. Man hört jetzt „weird folk“ oder „freak folk“, findet verrückte Männer in Frauenklamotten wie Devendra Banhart schick und erinnert sich nur noch verschwommen daran, dass der Popstar Adam Green vor ein paar Jahren in der bezaubernden Anti-Folk-Band Moldy Peaches spielte, die es leider auch nicht mehr gibt.
Die beiden Berliner Sebastian Hoffmann und Jan Nikolaus Junker jedoch halten an dem Begriff „Anti-Folk“ fest. Sie organisieren Konzerte und bilden mit ihrer CD-Reihe „Berlin Songs“, deren dritter Teil vor kurzem erschienen ist, die wild wuchernde Anti-Folk-Szene der Hauptstadt ab. Sie kümmern sich um eine Musik, die eher im Schatten der Clubszene gedeiht, für die Berlin international bekannt ist. Wegen Anti-Folk kommen keine Easy-Jet-Touristen an die Spree. Dabei ist Berlin, neben New York, inzwischen die führende Stadt in Sachen Anti-Folk.
„Do it yourself“
„Anti-Folk“ ist, trotz „Anti“ im Namen, auch Folk. Das „Anti“ soll lediglich erklären, dass die Art Folk, von der hier die Rede ist, mit der reinen Lehre des Folk nichts zu tun haben will. Ein gewisser Lach, der auch von Hoffmann und Junker als eine Art geistiger Szeneonkel verehrt wird, soll bei Auftritten im New Yorker „Sidewalk-Café“ in East Village den Begriff „Anti-Folk“ Mitte der Achtziger geprägt haben. Und dieser Lach sagte einmal: „Anti-Folk ist für Folk das, was Punk für Rock gewesen ist.“
Der widerständige Geist von Punk ist auch prägend für die Berliner Anti-Folk-Szene. Dies zeigt sich in vielerlei Hinsicht. „DIY“ sei wichtig, so Hoffmann und Junker, das gute alte Do-it-yourself-Prinzip. Dazu gehört, dass man die kommerziellen Strukturen des Musikbetriebs möglichst umgeht. So werden etwa etablierte Konzertorte weitestgehend vermieden. In Berlin zentriert sich die Anti-Folk-Szene auf Örtlichkeiten wie das West Germany, den Schokoladen oder das Madame Claude, die Junker „improvisierte Läden“ nennt. Man zahlt dort eigentlich immer weniger als 10 Euro Eintritt für ein Konzert.
CDs werden, so wie die „Berlin Songs“, lieber über eigene Homepages oder Myspace vertrieben als über den Fachhandel. Tourneen werden selbst organisiert. Anstatt in Hotelbetten übernachtet man auf der Wohnzimmercouch bei Freunden oder Fans, die man über Myspace kennengelernt hat. Hoffmann und Junker kennen jeden Musiker von ihren Samplern persönlich. „Die Grenze zwischen Publikum, Veranstalter und Künstler verwischt dabei“, erklärt Junker.
Dass Anti-Folk so gut in Berlin gedeiht, hat seine Gründe. Berlin ist die Stadt, in der man sich gerne ausprobiert. Von überallher kommen junge Menschen, bringen ihre Instrumente mit, versuchen es als Straßenmusiker, treffen in Kneipen auf Gleichgesinnte, die vielleicht zwei Akkorde auf der Gitarre beherrschen. Und schon kann man sich an Anti-Folk versuchen.
In dieser Musik geht es nicht um Können, sondern um Inspiration, man braucht kein großartiges Equipment, Instrumente vom Flohmarkt reichen aus. Anti-Folk ist niedrigschwellig, deshalb floriert er so sehr in dieser Stadt, in der niemand Geld hat, aber jeder ein Künstler ist. Man braucht kein Aussehen eines Popstars und keine extravaganten Klamotten, stattdessen geht es um „Intimität, Nähe und Charmantheit“, so Hoffmann. Anti-Folk ist geradezu ideal für das Berliner Kulturprekariat, das sich trotz zunehmender sozialer Verelendung und Gentrifizierung weiterhin wohlfühlen will in seiner Stadt.
Tournee als Abenteuer
Selbstbestimmt versucht man, von der eigenen Kunst zu leben und eine geregelte Arbeit zu umgehen. „Das geht in Berlin immer noch besser als in jeder anderen Hauptstadt auf der Welt“, sagt Anne von Keller, die gemeinsam mit Jakob Dobers die Berliner Anti-Folk-Band Sorry Gilberto bildet. Sorry Gilberto spielen andauernd in Berlin. In Kneipen und Cafés. Ihr ganzes Equipment passt in den Kofferraum eines Kleinwagens. Sie spielt Bass, ein kleines Casio-Keyboard und Blockflöte, er Gitarre und Ukulele, beide singen. Ein Schlagzeug gibt es nicht. Die Musik des Duos klingt anti-folk-typisch dilettantisch, aber äußerst charmant.
Ganze Europatourneen haben Sorry Gilberto bereits in Eigenregie organisiert. In Schweden und in Frankreich sind sie schon „an komischen Orten“ aufgetreten, so Dobers. Tourneen sollen Abenteuer sein, sagt er, sie seien Teil eines „Kampfes gegen die Routine“. Leicht zu führen ist dieser Kampf, in dem sich die ganze Berliner Anti-Folk-Szene befindet, nicht. Von Keller arbeitet nebenbei noch als Teilzeitschauspielerin und Bedienung in einer Kneipe. Berlin ist arm, diese Musiker sind es auch, da findet eins zum anderen. Anti-Folk ist der wahre Soundtrack Berlins.