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Archiv-Artikel

Die wirkliche Gefahr für die Demokratie

ÉGALITÉ Pierre Rosanvallons brillante Studie rettet das Gleichheitspostulat vor der politischen Denunziation

Die totale Konkurrenzgesellschaft machte den Konsumenten zum Maßstab des Gemeinwohls

VON RUDOLF WALTHER

Der Begriff „Gleichheit“ hat keine gute Presse. Meistens wird er denunziert als hinterwälderische oder steinzeitkommunistische Gleichmacherei. Der französische Historiker Pierre Rosanvallon zeigt in seinem bedeutenden Werk, dass dies nicht nur eine historische Legende ist, sondern obendrein eine politisch inspirierte Dummheit.

Entgegen der Legende von der sozialistisch-kommunistischen Herkunft des Gleichheitsbegriffs demonstriert Rosanvallon, dass sowohl die Französische Revolution von 1789 wie auch ihre amerikanische Vorgängerin von 1776 von Bürgern gedacht und getragen wurde, denen ein gemeinsames Ziel vorschwebte – die „Gesellschaft der Gleichen“. Für beide Revolutionen waren Freiheit und Gleichheit nicht nur untrennbar, sondern gleichursprünglich. Der französische Abgeordnete Pierre-Louis Roederer sah in der „Unduldsamkeit gegenüber Ungleichheiten“ sogar die Signatur des Zeitalters.

Die Gleichheitsvorstellungen der französischen wie der amerikanischen bürgerlichen Revolutionäre gründeten auf drei Prinzipien: auf gemeinsamen Grundrechten, die von den materiellen, ethnischen, kulturellen, intellektuellen und religiösen Unterschieden zwischen den Bürgern nicht tangiert werden; auf der Unabhängigkeit aller und der Ablehnung jeder Unterordnung außer jener unter das Gesetz und schließlich auf egalitärer politische Teilhabe, d. h. auf Staatsbürgerschaft und Wahlrecht.

Faul und ausschweifend

Im Widerspruch zu dieser egalitären Grundposition wurde in der „Gesellschaft der Gleichen“ Frauen und Sklaven die Gleichberechtigung abgesprochen und das Wahlrecht vielfältig beschränkt – durch den Zensus oder den Ausschluss der Analphabeten vom Wahlrecht. Noch 1925 wurden Analphabeten in 13 nördlichen und westlichen Bundesstaaten der USA vom Wahlrecht ausgeschlossen und erst 1965 wurden Alphabetisierungstests verboten.

In Frankreich gab es bis 1848 ein rigides Zensuswahlrecht. Je mehr sich Industrialisierung und Kapitalismus durchsetzten, desto illusorischer wurde die Vorstellung von der Gesellschaft der Gleichen. Die herrschenden liberal-konservativen Eliten verdünnten die Gleichheitsvorstellung von 1789 im Laufe des 19. Jahrhunderts auf ein karges Minimum – die Gleichheit vor dem Gesetz. Die soziale Dimension von Ungleichheit wurde psychologisiert oder naturalisiert, d. h. Differenzen sprachlicher, ethnischer, religiöser und kultureller Art wurden zur quasi-natürlichen Barriere zum Zutritt zur Gesellschaft der Gleichen erklärt.

Als Ursache von Armut galten nun wieder „Faulheit“, „Ausschweifung“ oder naturbedingte Faktoren. Die „egalitäre Ursprungsphilosophie“ wurde „wissenschaftlich“ demontiert von „Phrenologie“ (Lehre von den Schädelformen) und „Kraniometrie“ (Gehirnvermessung) – schließlich von Rassetheorien, Nationalgeschichten und Völkerpsychologie mit ihren Fantasien von quasi-naturgegebener Ungleichheit und „identitärer Gleichheit“, also „nostalgischer Erinnerungen und Klischees“ über Rasse, Nation und Volk. Der revolutionäre Gleichheitsbegriff wurde im Namen von „Natur“ und „Identität“ reaktionär umgepolt.

Angesichts des politischen Drucks von Benachteiligten und Ausgeschlossenen entschlossen sich die politischen Eliten Ende des 19. Jahrhunderts zu Korrektiven in Form von Sozialversicherungen, progressiven Einkommensteuern und kollektiven Arbeitsrechten für Gewerkschaften. Rosanvallon führt diesen historischen und politischen Bruch auf die Angst der Eliten vor Revolutionen zurück und spricht von einem „Jahrhundert der Umverteilung“ im Zeichen des Weltkriegs und danach des „redistributiven Sozialstaats“. 1948 gab es in England noch ganze 70 Personen, die über mehr als 6.000 Pfund Einkommen (nach Steuern) verfügten – zehn Jahre zuvor waren es noch 7.000 Personen.

Aber bereits Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts kam unter der Flagge des Neoliberalismus der brutale Gegenschlag. Es begann, was Rosanvallon das „Zeitalter der Ungleichheiten und der Aufkündigung sozialer Solidarität“ nennt.

Die „totale Konkurrenzgesellschaft“ machte den Konsumenten zum Maßstab des Gemeinwohls und erklärte Risiko und Zufall zur anthropologischen Grundausstattung. Rosanvallon illustriert dies an den Gehältern von US-Topmanagern. Deren Gehälter stiegen, verglichen mit denen einfacher Mitarbeiter, von 1 : 35 (1974) auf 1 : 150 (1990).

Im letzten Kapitel seiner beeindruckenden Analyse untersucht Rosanvallon die Chancen einer neuen „Gesellschaft der Gleichen“ unter den heutigen, nicht hintergehbaren Bedingungen. Dazu gehören das Recht und die Chance jedes Einzelnen zur Singularität, d. h. er oder sie selbst zu sein, aber dennoch mit andern zusammenleben zu wollen. Unter den Bedingungen von Gleichheit funktioniert das nur durch die wechselseitige Anerkennung von Partikularitäten, also nach dem Prinzip der Reziprozität. Und schließlich geht es um politische Teilhabe am Ganzen nicht nur im Wahlakt, sondern auch im Alltag. Diese Teilhabe nennt der Autor Kommunalität.

Wie eine Politik aussehen könnte, die Singularität, Reziprozität und Kommunalität systematisch kombiniert, kann der Autor aus Platzgründen nur andeuten. Aber allein diese Skizzen sind anregend, weil sie die herkömmlichen Rezepte der Sozialpolitik weit hinter sich lassen. Dem politisch wichtigen Buch kann man nur viel Erfolg wünschen und dem Verlag dafür danken, dass er die Kosten und Risiken nicht gescheut hat, das Meisterwerk übersetzen zu lassen.

Pierre Rosanvallon: „Die Gesellschaft der Gleichen“. Aus dem Französischen v. Michael Halfbrodt. Hamburger Edition, Hamburg 2013, 384 S., 33 Euro