: Lektionen in Schwyzerdütsch, Anfängerkurs
Wie ein hochtalentierter Gastarbeiter im Zug von Hamburg nach Celle beinahe mein Freund geworden wäre
Der Mann hat alles richtig gemacht. Respekt. Die Geschichte fängt damit an, dass ich es nicht besonders schätze, in der Bahn Menschen kennen zu lernen. Ich habe schon Freunde, vielen Dank. Aber der Mann steckte seinen Kopf zur Abteiltür herein, verzweifelt: „Verstehen Sie Schwyzerdütsch?“ Ich fühlte mich herausgefordert. Ein bisschen, behauptete ich keck, obwohl ich nicht mal Chäse verstehe, odr, aber man möchte ja fremdsprachige Touristen keinesfalls im Stich lassen. Nun prasselte eine Geschichte auf mich nieder, die ich dank Sprechtempo, Verzweiflung, Dialekt und mangelnder Faktenorganisation des jugendlichen Erzählers erst irgendwo zwischen Hamburg und Harburg verstand.
Der Erzähler, gebürtiger Basler, habe seinen Bruder in Westerland besucht, ja, dort komme er gerade her, zum ersten Mal sei er dort gewesen, schön sei es dort, auf Sylt, sein Bruder habe ihm zum Geburtstag ein Velo geschenkt, ob ich wisse, was das sei. Äh, nein. Ein Fahrrad! Er habe sich wahnsinnig gefreut, ein Fahrrad, das habe er jetzt mit, er habe vergessen zu fragen, wo ich eigentlich hinfahre? Nach Celle? Gott sei Dank, auch nach Celle, ich sei seine Rettung, alle anderen führen nach Hannover oder noch weiter, das nütze ihm nichts. Gar nichts. Er sah mich mit bittenden Augen an, fast gekränkt, dass ich nicht verstand. Er hatte eine Schramme auf der Wange und roch ein bisschen nach Alkohol, was ja aber am Geburtstag nachzusehen ist, jedenfalls das Letztere.
Ja, bis Hamburg sei alles gut gegangen, im Bummelzug, aber jetzt, jetzt solle er für das Fahrrad extra bezahlen, im IC, in der Schweiz sei das anders, eine Fahrkarte habe er wohl, aber nicht für das Fahrrad, auf der Hinfahrt habe er ja noch gar nichts vom Fahrrad wissen können. Ihm sei das grauenhaft peinlich, aber er habe kein Geld, er könne, sage der Schaffner, das auch später von der Schweiz aus begleichen, per Überweisung, dann koste das aber 58,50 Euro, das müsse man sich mal vorstellen, da sei ja Fliegen billiger, 58,50 Euro, aber fliegen ginge mit dem neuen Velo natürlich auch keinesfalls, und er sei unterwegs zu seiner Schwester nach Celle, die ihn dort abhole, und wenn er gleich bezahle, koste das Velo nur 11,20 Euro, das sei deutsche Bürokratie, das müsse man sich mal vorstellen, in der Schweiz sei alles ja auch nicht gerade billig, aber Kinder, Hunde und Velos kosteten nur die Hälfte. Höchstens.
Und ob ich die Schramme sehe, er habe sich so hingelegt, mit dem neuen Velo, die Bremsen seien ja ganz anders als früher, wirklich, er sei der Matthias, ich dürfe Matze zu ihm sagen. Und nein, ich wolle ihm wirklich das Geld geben, ich könne mir gar nicht vorstellen, wie erleichtert er sei, ich bekäme das Geld zurück und einen Zehner extra … – hier wurde ich stutzig, nicht wegen des Überschwangs, sondern wegen der Phrase, die nicht ganz zur Situation passen wollte – … man sehe sich zehn Minuten vor Celle, er merke sich meine Platznummer, wir würden zusammen aussteigen, das Fahrrad ausladen, das Geld von der Schwester einsammeln. Es klang, als wären wir zusammen auf eine Geburtstagsfeier eingeladen, und es würde der Beginn einer wunderbaren Freundschaft werden.
Gemessen daran fand ich 11,20 Euro ein kleines Risiko. Es hätte ja auch stimmen können, und man will nicht kleinlich oder unfreundlich erscheinen. Schon gar nicht Freunden gegenüber, Freunden in Not. Wie er es aber geschafft hat, dass ich zehn Minuten vor Celle geradezu erleichtert war, als er nicht wieder auftauchte – denn er war ja schon, vollkommen velofrei, in Harburg ausgestiegen –, weiß ich immer noch nicht. Er ist hochtalentiert, und er arbeitet für sein Geld. Mehr kann man auch von Gastarbeitern nicht verlangen. Wenn Sie ihn treffen, geben Sie ihm bitte etwas, es würde ihn sonst traurig machen.
Na gut, wenn ich ehrlich bin, war die Vorstellung vielleicht alles in allem nur 6,70 Euro wert. Der Rest war dann wohl Trinkgeld. SUSANNE FISCHER