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Roter Stachel im schwarzen Land

Leipzig wählt einen neuen Oberbürgermeister. Das stets von der SPD besetzte Amt gilt als zweitwichtigster Posten im CDU-beherrschten Sachsen. Vorgänger Tiefensee hinterlässt eine Stadt, die von ihrem Nimbus als Boomtown viel eingebüßt hat

AUS DRESDEN MICHAEL BARTSCH

Um den Stuhl des Leipziger Oberbürgermeisters tobt eine Wahlschlacht, als ginge es um das Schicksal des Abendlandes. SPD-Chef Matthias Platzeck und der bisherige Amtsinhaber Wolfgang Tiefensee, jetzt Verkehrsminister in Berlin, rücken für ihren Favoriten Burkhard Jung an. Oskar Lafontaine unterstützt in der Stadt, die ihm auf dem Höhepunkt der Hartz-Proteste Beifall klatschte, den Linkspartei-Kandidaten Dietmar Pellmann. Und der grüne Kandidat Michael Weichert will in der kommenden Nacht bis zwei Uhr morgens um die letzte Stimme ringen. Unentschlossen sind nach einer Umfrage des ortsansässigen Instituts für Marktforschung immerhin 40 Prozent der Leipziger.

„Das ist der zweitwichtigste Posten in Sachsen“, erklärt der aus Dresden herbeigeeilte CDU-Ministerpräsident Georg Milbradt das Interesse. Leipzig blieb auch in Zeiten der Biedenkopf-Monarchie der rote Stachel im schwarzen Land. Traditionell aufgeklärter Bürgergeist etwa im Vergleich mit dem höfischen Dresden ist mehr als nur Kolportage. OB Wolfgang Tiefensee galt als einziger aussichtsreicher SPD-Bewerber für das Ministerpräsidentenamt in Sachsen, wenn er nur gewollt hätte.

Die Union plagen nicht nur generelle Probleme mit den Großstädten, in Leipzig hat sie auch regelmäßig Mühe, einen Kandidaten aufzubauen. Gegen Strahlemann Tiefensee, erst im Vorjahr mit 67,1 Prozent wiedergewählt, erschien Konkurrenz sinnlos. Jetzt werden dem aus Leipzig stammenden Landtagsabgeordneten Uwe Albrecht immerhin 26 Prozent zugebilligt – und damit der zweite Platz hinter dem SPD-Kandidaten Jung.

Für die Sozialdemokraten geht es darum, die Kontinuität in ihrer Hochburg zu wahren. Dafür müssen sie weiter an der aus den Neunzigerjahren stammenden Legende von der ostdeutschen Boomtown stricken. Psychologisch wichtige Ansiedlungen wie die von BMW, Porsche oder der Post-Tochter DHL konnten das anfangs noch belegen. Die inzwischen gescheiterte Olympiabewerbung, mit dem Namen des bisherigen Sportdezernenten Jung eng verbunden, markierte neben dem viel bespöttelten City-Tunnel den Höhepunkt des Größenwahnsinns.

Doch Tiefensee hinterließ auch eine hoch verschuldete, knapp an der Zwangsverwaltung entlangschlitternde Stadt mit den relativ meisten Arbeitslosen und Kriminellen in Sachsen. Der Filz zwischen Stadtverwaltung, kommunalen und privaten Betrieben ist sprichwörtlich, überschattete auch die Olympia-Bewerbung und kostete zwei Dezernenten das Amt. Hier hat sich der wahrscheinliche Tiefensee-Nachfolger Jung zumindest verbal mehr Transparenz vorgenommen.

Deshalb stößt das heftige Parteienwerben sogar in der Bürgerstadt Leipzig auf schwache Resonanz. Vor vier Wochen wusste gar nur ein Drittel etwas von einer bevorstehenden Oberbürgermeisterwahl. Die Pro-SPD-Stimmung aber kippt nicht so schnell. Ein klarer Sieg Jungs wird erwartet, auch wenn vermutlich nur jeder zweite der 407.000 Berechtigten wählen wird.

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