: Auch Citoyens können Hummer essen
Feine Unterschiede (4): Der Bürgerlichkeitsdebatte liegt in rot-grünen Kreisen eine bange Frage zugrunde. Diese: Können Leute mit bürgerlichen Lebensformen noch Linke sein? Die Antwort macht eine Verschiebung im linken Selbstverständnis deutlich
■ Gibt es sie, die viel beschworene Neue Bürgerlichkeit? Soll es sie geben? Wie fühlt sie sich an? Auf der anderen Seite: Lässt sich das Antibürgerliche wirklich noch mit Konzepten von Selbstverwirklichung verknüpfen?Eine Reihe mit Studien zum Bürgerlichen, Neo-, Alt- oder Anti-, zwischen Aufbruchstimmung und Restekel
VON ISOLDE CHARIM
Es hat etwas Gespenstisches, das neue Bürgertum. Es geht um. Aber keiner weiß genau, was es ist. Keiner kann seiner habhaft werden. Ist deshalb die Frage danach bereits eine „Scheindebatte“, wie Jan Engelmann vergangene Woche an dieser Stelle behauptet hat? Eine solche hätte keinen Gegenstand. Hier lässt sich jedoch eindeutig feststellen: Es gibt da tatsächlich etwas, nämlich eine zunehmende Veränderung der Lebensformen. Und diese Etwas ist erklärungsbedürftig.
Als Erstes stellt sich die Frage, welchen Status hat ein Lebensstil eigentlich? Norbert Bolz, der den Auftakt zu dieser Reihe machte, präsentierte ihn uns als rein ästhetische Kategorie. Er skizzierte nachdrücklich die – ihm unerträgliche – Hegemonie antibürgerlicher Lebensformen, die so weit geht, dass nicht nur der Deutschlehrer einen Zopf, sondern „auch der Direktor einen Ohrring trägt“. Wir hätten es hier mit einer Art von Konsum, von Mode zu tun – mit leeren Zeichen der Antibürgerlichkeit also. Leer ist ein Zeichen dann, wenn es keine tatsächliche Differenz markiert, wenn es eine solche nur simuliert, ohne einem politischen, sozialen oder ökonomischen Unterschied eine Form zu geben.
Dass die alten Formen der Verweigerung die neuen Formen der Affirmation sind, ist nun hinlänglich bekannt. Sie eröffnen keine Differenz mehr. Aber sie haben doch einen Bezug zum Ökonomischen. Entsprechen sie doch dem wirtschaftlich gefragten normalen Exzess, der regulären Übertretung, dem normierten Individualismus. Dabei muss man sich wirklich nicht mehr aufhalten. Die viel interessantere Frage heute ist doch, was hat es mit dieser „neuen Bürgerlichkeit“ auf sich, die Bolz gegen die Hegemonie des Antibürgerlichen einfordert, während allenthalben längst über eine Verbürgerlichung der Linken diskutiert wird.
Diese Diskussion liefert den Befund: Die so genannten bürgerlichen Lebensformen greifen um sich. Das allein sagt aber noch nicht viel aus. Ist das nur ein „Lifestyle-Phänomen unter anderen“, wie die Süddeutsche Zeitung feststellt? Handelt es sich dabei also um ebenso leere Gesten wie bei der heutigen Antibürgerlichkeit? Statt bei der Feststellung stehen zu bleiben, dass das Wissen um den richtigen Gebrauch des Fischbestecks zunimmt, sollte man bedenken, dass dasselbe Phänomen durchaus unterschiedliche Bedeutungen haben kann.
Bei ehemaligen Poplinken etwa, die nun zu Pop-FDPlern mutiert sind, wird der bürgerliche Habitus zum Zeichen der Affirmation. Da ordnet man sich paradoxerweise unter Rückgriff auf alte, feststehende Formen in ein Bestehendes ein, dessen Merkmale gerade fortwährende Beschleunigung und ständige Veränderung sind.
Dieselbe „Verbürgerlichung“ kann jedoch auch den gegenteiligen Effekt haben – bei anhaltenden Linken etwa, die den antibürgerlichen Gestus meist ganz oder teilweise aufgegeben haben und zunehmend bürgerlichere Lebensformen annehmen. Wobei das Spektrum sehr breit ist und von allerhand Mischformen bis zu eindeutigen Versionen reicht. Es gibt nicht nur Anzüge mit Krawatten und die viel zitierte Hummergabel. Es gibt nicht nur die unwahrscheinlichsten Leute, die plötzlich Familien gründen. Zu dem Phänomen gehört ebenso die kommunistische Buchhändlerin, die ihren antiimperialistischen Kampf nunmehr in ihrem Laden für ausgesuchtes afrikanisches Interieur betreibt, wie die Punkerin von vis-à-vis mit ihrem Adventskranz (die neue Bürgerlichkeit wird in der Debatte ja meist mit demselben Argument wie die neue Spiritualität erklärt – mit der Sehnsucht nach Bindung und Orientierung).
Man sollte das Phänomen also nicht nur in seinen puristischen Spitzen, sondern in all seiner Breite betrachten. Und da zeigt es sich, dass sich die neue Bürgerlichkeit nicht auf luxuriöse Lebensformen, Benimmregeln und die Beherrschung des comme il faut reduzieren lässt, sondern auch in einem Wissen um Differenzen, in einem Qualitätsbewusstsein also besteht. Kurz gesagt – es gibt dabei auch ein übersehenes Moment von Bildung. Zu diesem Übersehen trägt bei, dass Bildungsträger und ökonomische Mittelschicht, die früher eben als Bürgertum in eins fielen, heute durchaus getrennt auftreten können: Man sieht sie vielleicht nicht, aber es gibt ein ganzes Schattenreich an Hartz-IV-Intellektuellen, die man ebenso der neuen Bürgerlichkeit zurechnen muss. Wenn nun aber Träger von Spitzenbildung ein neues „Subproletariat“ bilden, wenn Geschmack und Bildung nicht mehr notwendigerweise Folgen des sozialen Status sind, wenn ein ganzes an der Armutsgrenze lebendes Segment Träger des bürgerlichen Kulturerbes ist, wird deutlich, dass sich die Begriffe verschieben: Es gibt tatsächlich eine neue Bürgerlichkeit. Diese ist keine ökonomische Kategorie mehr, aber sehr wohl eine ästhetische (wenn man darunter jeden Zugang zur Schönheit rechnet). Die entscheidende Frage ist nun, ob es auch eine politische Kategorie ist.
Die Antwort darauf scheint zunächst einmal ein klares Nein zu sein. Bürgerliche Lebensformen finden sich heute in allen politischen Lagern. Sie haben keine eindeutige parteipolitische Entsprechung, wie Mark Terkessidis suggerierte. Es gibt nicht einfach Bürgerliche, und diese wählen eben FDP. Wenn dem so wäre, dann hätten wir tatsächlich eine Scheindebatte. Das Problem beginnt aber dort, wo der Habitus nicht mehr politisch zuordenbar ist: Der Lebensstil ist heute kein eindeutiger politischer Parameter mehr. Da er aber weder ökonomisch noch politisch zuordenbar ist, scheint es sich also doch um eine rein ästhetische Differenz zu handeln.
Aber der Schein trügt. Während der antibürgerliche Gestus heute eine Unterscheidung nur vortäuscht, ist die ästhetische Angleichung der Lebensformen von linken Arrivierten und affirmativen Arrivierten dazu angetan, eine Differenz zu kaschieren – die politische Differenz. Denn diese ist nach wie vor existent. Es ist nötig, das anzumerken, denn die bange Frage, die dieser taz-Debatte unausgesprochen zu Grunde liegt, lautet doch: Können Leute mit bürgerlichen Lebensformen noch Linke sein? Die Antwort darauf macht eine große Verschiebung im linken Selbstverständnis deutlich: Ja, das können sie.
Aber daraus folgt, dass auch das Linkssein neu zu fassen ist. Es ist nicht mehr getragen von der antibürgerlichen Lebensweise eines ganzen Milieus, es gibt nicht mehr die Möglichkeit, im Sog der Jugendbewegung quasi automatisch, also unbewusst links zu sein – dazu bedarf es heute vielmehr einer bewussten Entscheidung. Daraus folgt zweierlei.
Zum einen das Ende der seit den 70er-Jahren vorherrschenden Vorstellung, wahre linke Politik sei Identitätspolitik. Jene Vorstellung, im linken Kampf gehe es um die Durchsetzung des Rechts, in seiner jeweiligen Besonderheit – als Frau, als Homosexueller, als ethnische Minderheit – öffentlich anerkannt zu werden. Ziel war es also, als das anerkannt zu werden, was man ist. Damit versuchte man, entgegen einem allgemeinen Citoyentum, die private Identität als solche im öffentlichen Bereich geltend zu machen. Deshalb charakterisierte der französische Theoretiker Marcel Gauchet solche Identitätspolitik auch als ein „Öffentlichwerden des Privaten“.
Nun gibt es aber keine Entsprechung mehr zwischen Lebensstil und politischer Verortung. Der linke Bürger muss seine Privatheit in der politischen Arena beiseite schieben. Man kann nunmehr – ohne ein Verräter zu sein – auch mit so genannten bürgerlichen Lebensformen ein linker Citoyen sein. Man kann die Hummergabel zu handhaben wissen, aber im Kopf ein Linker sein. Denn das Politische funktioniert nicht mehr über die Einheit von Privatem und Öffentlichem. Das ist nicht nur der Abschied von dem grundlegenden linken Credo der letzten 30 Jahre, alles Private sei politisch. Es bedeutet eben auch, dass die politische Orientierung zur Entscheidung wird.
Damit wird klar, was der Einsatz der Debatte ist: Unter dem Topos „neue Bürgerlichkeit“ verhandelt die Linke die Rückkehr einer wesentlichen Kategorie des Bürgertums, die man längst entsorgt glaubte: das viel geschmähte, viel kritisierte Subjekt, das Subjekt als autonomer Träger seiner Entscheidungen, als Zentrum seiner Initiativen. Das ist die zweite wesentliche Verschiebung im linken Selbstverständnis. Erst dies rechtfertigt es überhaupt, von Bürgerlichkeit zu sprechen – und nicht von irgendwelchen Kinkerlitzchen eines wiederentdeckten savoir-faire.
Neu an dieser Bürgerlichkeit ist aber ihr Widerspruch zwischen Etabliertheit und Unversöhntheit mit der eigenen Klasse, wie Diedrich Diederichsen es sinngemäß genannt hat. Das geht über die Unvereinbarkeiten, die den alten Bürgerbegriff prägten, hinaus. Es besagt, dass die neue Bürgerlichkeit sich nur als ihr Gegenteil realisieren kann: als neue linke Subjektivität. Doppelt entkoppelt – von seiner privaten Identität und von seiner objektiven Klassenlage – bedarf der neue linke Bürger nun etwas anderes, das ihn trägt. Er braucht, seinem paradoxen Status entsprechend, linke Werte, eine linke Moral, um ein autonomes linkes Subjekt sein zu können.
Am 17. 1. schrieb in der Reihe Norbert Bolz, am 24. 1. Mark Terkessidis, am 31. 1. Jan Engelmann