: Und Joschka lebt auch noch
Mit einer schwergewichtigen Debatte über Europa, den Islam und den Mittleren Osten feierten Frankfurter Spontis den 35. Geburtstag der Karl-Marx-Buchhandlung – und alle lauschten sie Fischer
von HEIDE PLATEN
Schon in der U-Bahn der erste grüne Multi-Politiker, der gerade vor zwei Monaten einen Herzinfarkt überlebt hat und schon wieder jettet zwischen Brüssel und Prag. Gesünder essen, mehr bewegen, weniger Stress hat ihm der Arzt verordnet. So nahm er denn am Sonntagvormittag wenigstens die ellenlange Treppe zum Campus der Frankfurter Goethe-Universität zu Fuß.
Die Frankfurter Spontis haben einen seltsam stetigen Zusammenhalt: Alle paar Jahre gibt es Jubiläen, Beerdigungen, Feste. Die Falten werden tiefer, das Gedächtnis lässt nach. Wo war doch gleich das Studierendenhaus? Ach ja, erster Stock, Festsaal, einst auch Programmkino, in dem Revolutionsfilme und Kultwestern gezeigt wurden. „Hier war ich“, sagt ein sehr grauhaariger, älterer Herr, „das letzte Mal, als der SDS aufgelöst wurde.“
Das Ende des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes datiert Anfang der 70er-Jahre des vorigen Jahrhunderts. Damals spaltete sich die bundesdeutsche Nachkriegslinke in kommunistische Splittergruppen und soziale Bewegungen: zusammenleben, arbeiten, kämpfen.
Wer ist gestorben?
Die Karl-Marx-Buchhandlung war ein Projekt dieser ersten Trennungsphase und hatte zum Wochenende zur Feier ihres 35. Geburtstages geladen. Auf dem Podium verkündete die derzeitige Geschäftsführerin, Barbara Determann, der Laden sei „quicklebendig“. Bitte von Kondolenzbesuchen absehen, niemand schließt, niemand ist gestorben. Und Joschka lebt auch noch.
Am 5. Februar 1971 war der Buchladen gegründet worden. Exaußenminister Joschka Fischer zeichnete damals als Treuhänder beim Notar als „Joseph Fischer, Lektor“. Ein eigener, neuer Buchladen war seinerzeit vonnöten, weil das bis dahin angesagte „Libresso“ am Frankfurter Opernplatz im allgemeinen Zersplitterungskampf sich samt der legendär schmuddeligen Kaffeemaschinenecke dem maoistischen Flügel zugeschlagen hatte. Zur Feier kam Fischer ebenso wie sein Freund und damaliger Mitkollektivist, der Europa-Abgeordnete Daniel Cohn-Bendit, und der Professor für Neuere Geschichte an der Universität Jerusalem, Mitbegründer Dan Diner.
Der Saal war überfüllt. Alte Freunde, deren Kinder, Kindeskinder, junge Studierende drängten sich wie weiland während der Außerparlamentarischen Opposition in den Gängen, auf den Fensterbrettern, hockten auf dem Fußboden. Vor dem Saal wurden die Todesnachrichten ausgetauscht: Wer ist gestorben, begraben, wer hat Schlaganfall und schwere Krankheiten überlebt? Wen hat es wohin verschlagen? Harte Lektion in Sachen Generationenwechsel: „Ey, meine Mutter war bei dir im Kinderladen!“
Dass Fischer gekommen sei, sagt Cohn-Bendit, bleibe vorerst eine Ausnahme: „Eigentlich wollte er öffentlich nicht mehr auftreten.“ Fischer wirkte stiller als gewohnt, verbarg das Gesicht in den Händen, zupfte ungewohnt verlegen an seinen Manschetten und stellte fest: „Damals hieß das hier noch Studentinnenhaus!“ Studierendenhaus kam später.
Die weißen Wände auch, die alten Parolen sind seit Jahrzehnten überstrichen. Da, wo früher ein einziges Megafon reichte, steht, sagt einer anerkennend, nun „eine wirklich feine Anlage“. Und: keine Zwischenrufe, wo Fischer einst Widerspruch provozierte, zwei Stunden lang fast andächtige Stille, die Spontaneität ist aufgebraucht, Freunde sind Publikum geworden. Das Diskussionsthema kam weltgewichtig daher: „Über politische Urteilskraft – Amerika, Mittlerer Osten und die Zukunft Europas“.
Alte Kampfgefährten hatten sich vor 15 Jahren während des ersten Golfkrieges mit Zorn und Tränen um Krieg und Frieden zerstritten, gespalten in überzeugte Bellizisten und beinharte Kriegsgegner, Freundschaften waren zerbrochen. Zwischen manchen sind die weltanschaulichen Gräben in der Folge tiefer geworden als die Falten in den Gesichtern. Die Podiumsdiskussion hatte eben deshalb trotz pessimistischer Weltsicht auch Versöhnliches.
Ein düsteres Bild
Während der Exaußenminister ein düsteres Bild der künftig manifesten Bedrohung des Friedens in Europa durch die „Modernisierungskrisen“ in den Ländern das Mittleren Ostens und das Großmachtstreben des Iran sah, prophezeite der Historiker Dan Diner langfristig einen Sieg des Pragmatismus auch bei den radikal-fundamentalistischen Politikern des Vorderen Orients.
Und es regte sich kein bisschen Protest, als Cohn-Bendit der Vergangenheit auf seine eigene Weise nachhing: „Im Kalten Krieg hat die Atombombe alle irgendwie vernünftig gemacht.“