: Tokyo Decadence
Mit „Spiegelhölle“ liegen erstmals Erzählungen des einflussreichen japanischen Kriminalschriftstellers Edogawa Rampos auf Deutsch vor
von KOLJA MENSING
Der Student Fukiya Seiichiro ist überzeugt, dass große Verbrecher allein deshalb nicht zur Rechenschaft gezogen werden, weil sie „kühn genug sind, sich von Bedenken nicht abschrecken zu lassen“. Als er dann erfährt, dass eine alte Frau in seiner Nachbarschaft ihre Ersparnisse nicht auf der Bank, sondern in ihrer Wohnung aufbewahrt, fasst er den Entschluss, seine theoretischen Überlegungen in die Tat umzusetzen. Kaltblütig plant Fukiya Seiichiro den perfekten Raubmord, und vielleicht wäre er sogar damit durchgekommen, wenn er sich nicht im Polizeiverhör allzu selbstbewusst gezeigt hätte: Es ist das Fehlen jeglicher Gefühlsregungen, das ihn schließlich überführt.
„Der psychologische Test“ heißt diese emotional abgerüstete Kurzgeschichte, die erstmals 1925 in Japan erschien – obwohl sie auf den ersten Blick gar nicht so „japanisch“ wirkt. Die Verweise auf Nietzsches Philosophie, Thomas de Quincys „Second Paper on Murder“ und Dostojewskis „Schuld und Sühne“ sind kaum zu übersehen, und hinter dem Pseudonym des Autors verbirgt sich ein Bekenntnis zur amerikanischen Kriminalliteratur. Der 1894 geborene Hirai Taro veröffentlichte seine Erzählungen und Romane unter dem Namen Edogawa Rampo – einer lautmalerischen Anspielung auf Edgar Allen Poe, japanisch: „edogah-aran-poh“.
Zumindest in seinem Heimatland war der 1965 verstorbene Rampo schon bald bekannter als sein großes Vorbild. Rampo zählt bis heute zu den einflussreichsten Schriftstellern der japanischen Kriminalliteratur, und eine der von ihm geschaffenen Figuren steht seit den späten Neunzigerjahren sogar im Mittelpunkt der äußerst erfolgreichen Manga- und Anime-Reihe „Detektive Conan“. Obwohl Edogawa Rampo gerne als „Vater der japanischen Detektivgeschichte“ bezeichnet wird und über zwanzig Romane und eine Unmenge von Kurzgeschichten geschrieben hat, gibt es nur einige wenige Übersetzungen ins Englische oder Französische. Auf Deutsch konnte man bisher nur einzelne Texte in Anthologien finden. Nur der Anime, der auf seinen Geschichten beruht, hat es ins Nachmittagsprogramm von RTL2 geschafft. Umso besser also, dass der Berliner Maas Verlag unter dem Titel „Spiegelhölle“ jetzt eine kleine, sorgfältig edierte Auswahl von Erzählungen zusammengestellt hat.
Auf den ersten Blick fallen natürlich die bereits erwähnten Anklänge an die westliche Tradition und an die zeitgenössische angloamerikanische crime fiction auf. Eine große Überraschung ist das nicht: Arthur Conan Doyle oder Edgar Allen Poe wurden seit den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts ins Japanische übersetzt und gelesen. Nach und nach nahm das Genre in Japan jedoch eigene charakteristische Züge an, und auch das schlägt sich in den Geschichten von Edogawa Rampo wieder. Während sein Kollege Harua Sato 1924 sein einflussreiches Essay über die „romantischen und erotischen Ursprünge“ der Kriminalliteratur veröffentlichte, ließ Rampo zur gleichen Zeit den sadistischen und masochistischen Neigungen seiner Figuren freien Lauf und erschuf abgründige Szenarien mit düsteren sexuellen Untertönen. Eine Gruppe von reichen Geschäftsleuten bekämpft ihre Langeweile „mit der Herstellung und Aufführung pornografischer Filme“ genauso wie mit „der Besichtigung von Gefängnissen und psychiatrischen Kliniken“, ein Tischler verbirgt sich über Wochen in dem engen Hohlraum eines von ihm selbst gefertigten Sitzmöbels, um dem Körper seiner Angebeteten näher zu sein, und eine nach außen hin aufopferungsvolle Ehefrau vergewaltigt ihren an Armen und Beinen amputieren Mann: „Es war ihr nicht wirklich unangenehm, die Qualen der Angst in seinen Augen zu sehen.“
Natürlich gehören die versehrten Leiber und vernarbten Seelen in diesen Geschichten auch zu den grausamen Nachwirkungen der brutalen japanischen Eroberungskriege, die damals erst wenige Jahre zurücklagen. Verblüffender als dieser „realistische“ Bezug ist allerdings die geradezu bösartige Fantasie, mit der Edogawa Rampo seine Albträume bis ins letzte Detail ausstattet. Die aktuellen japanischen Horrorfilme, die sich derzeit auch hierzulande großer Beliebtheit erfreuen, kommen einem nach dem Gang durch die kalten Spiegelhöllen von Edogawa Rampo auf jeden Fall ziemlich harmlos vor.
Edogawa Rampo: „Spiegelhölle“. Aus dem Japanischen von Martina Berlin u. a. Maas Verlag, Berlin 2005, 220 Seiten, 16,80 Euro