: Tütenbrandung mit Echt Kölnisch Wasser
Im Schlafzimmer von Sophie Löwenstein sind alle namhaften Kaufhäuser vertreten. Als Plastiktüte. Doch in dem Raum herrschen die Vipern. Ein Besuch bei einer sehr alten Dame
VON MARKUS GÖTTE
Frau Löwenstein* hat sich verheddert. In der Paketschnur auf ihrem alten Stuhl in der Toilette. Ihre Schwester hilft ihr, sich zu befreien. Noch sitzt die 93-Jährige halb auf dem Holzstuhl mit den gedrechselten Füßen. Und kommt nicht los. Samt Stuhl hat sie sich zwischen Klosett und Waschbecken gezwängt. Ein knochiges Wesen im grünen Haushaltskittel. Ein Meter fünfzig klein, mit einem Kopf, der auf die rechte Schulter zu klappen droht. Aschgraue Haare, die nicht im Nacken bleiben wollen. Strähnig hängen sie an ihrer Stirn herunter und rauben den graublauen Augen die Sicht. Ihre rechte Hand ist frei. Die Linke noch verwurstelt in der Schnur. Und die schneidet tiefe Rillen in eine mit Pigmentflecken übersäte, labberige Haut. Schmerzen hat sie keine. Aber ein wenig Panik: „Frieda, mach mich los“, drängelt sie ihre sieben Jahre jüngere Schwester. „Dummes Huhn, hast dich doch selbst da festgeknotet“, erwidert diese.
Eine imposante Erscheinung ist die Frieda, die personalausweisamtlich Friedel Menzel heißt. Auch klein, aber mit hochhackigen Schuhen an den nackten Füßen. Dazu schwarze Cordhose, weiße Bluse und drüber eine braune Weste, ein Fell-Imitat. Genau genommen wohl das Innenfutter einer Jacke. Très chic, die alte Dame. Aber man erkennt, die Bluse ist im Dauereinsatz und ihre Brillengläser sind fett- und staubbeschichtet. Ein Wunder, dass sie noch was sieht durch die trüben Scheiben. Dass sie die Teppichverwerfungen im Flur, die erstarrten Perserwellen unbeschadet überstöckelt. Jetzt müht sie sich ab mit ihrer Schwester, die nicht stillhält. Aber gleich ist sie frei.
Frau Löwenstein fesselt sich selbst, jeden Abend in der Toilette. Damit sie nachts nicht rausfällt aus ihrem neuen Bett, dem alten Stuhl. Da schläft sie nämlich. Da fühlt sie sich sicher: vor den Schlangen, vor den Mäusen und anderem Getier, die ihr ans Leben wollen. Friedel Menzel schüttelt den Kopf. „Die spinnt, meine Schwester.“ Und sie hat wahrscheinlich Recht. Die einzigen Tiere, die es hier im ersten Stock eines Mietshauses unterhalb des Kasseler Hauptbahnhofes gibt, sind Motten, Fliegen oder tot, wie die da drüben. Die hocken ausgestopft und festgenagelt auf Baumstümpfen und lackierten Astgabeln: Uhu, Eichhörnchen, Specht und andere Waldbewohner. Im Flur, im Ess- oder Wohnzimmer des Sechs-Zimmer-Appartements.
Die Schwestern wohnen hier zusammen – allein. Die Ehemänner sind längst vergraben. Auch Reh und Hirsch können keinen Wirbel mehr verursachen. In Öl starren sie von den Wänden, ragen mit Geweih oder mit Vorderläufen in den Raum hinein.
Aber Frau Löwenstein hat sie gesehen, die Schlangen, die Vipern. Und gehört: „Die alten Vipern machen ääääh“, sie überlegt kurz, „und die jungen machen bähhhh.“ Sie schmatzt dabei ein bisschen, schluckt und kichert. Doch es ist ihr ernst damit. Nur in der Toilette will sie sein in der Nacht, sonst nirgends. Denn ihr Zimmer ist verseucht mit dem Getier. Durch Löcher und durch Ritzen sind die dort hineingekrabbelt. Bloß in Begleitung traut sie sich noch in ihr Ex-Schlafzimmer gegenüber dem Klo: ihr altes Reich. Das Löwenstein’sche Tütenmeer. Fünfzehn Quadratmeter, voller Plastiktüten, wohlgemerkt. Alle namhaften Kaufhäuser sind vertreten: Kaufhof, Karstadt, Frankonia-Jagd und auch die Billigheimer: Woolworth und Aldi.
Möbel sind nur zu erahnen, überflutet, einfach untergegangen. Einzig in der Mitte ragt gelb die Rückenlehne eines Stuhls heraus. Zwei Fußbreit eng ist ein Pfad inmitten der Tüten, von der Tür geradewegs zum unbenutzten Bett. Bis dahin ist es noch ein gutes Stück Arbeit. Die Tütenbrandung ist stark. Nur Zentimeter um Zentimeter bekommt man die Tür auf. Hat man sich hineingezwängt, steht man, um Balance bemüht, zwischen ihren Einkäufen, Stoffen, Töpfen, Geweihen, Porzellanfiguren und Besteck, alles in Tüten verstaut. Die Ausrüstungsgegenstände für ein neues Domizil, gekauft und einfach hier abgeladen. Zwischengelagert. Frau Löwenstein will sich nämlich in naher Zukunft eine eigene Wohnung mieten und nicht mehr bei der garstigen Frau Menzel, ihrer Schwester, wohnen. So ihre offizielle Begründung für den Tütensee. „Dabei hat meine Schwester schon ne eigene Wohnung“, ruft Friedel Menzel aus dem Flur. „Aber die ist längst gerammelt voll mit ihren Tüten.“
Im ehemaligen Schlafgemach sind nicht nur Tüten, sondern auch jede Menge Flaschen: Apfelessig und Sanddorn, aber auch Strohrum in der Halbliterflasche, Danziger Goldwasser und Wein im Bocksbeutel. Letztere scheinen Frau Löwensteins Lieblingsgetränke zu sein. „Ein Gläschen Wein am Tag, kriegt man kein Herzinfarkt“, lautet ihr privates Motto, in das sie später noch allerlei andere Nahrungsmittel eingemeinden wird. Außerordentlich vieles dient bei ihr als probates Mittel gegen Infarkt: Boskop-Äpfel, Zartbitter-Schokolade, Aldi-Sahne zum Beispiel.
Früher, also bevor die Schlangen kamen, war ihr Tütenreich für jedermann tabu. Ihr Zimmer No-Go-Area, verrammelt, wie die Toilette, ihre Schlafstatt in der Nacht, mit Kette und Vorhängeschloss. Aber seitdem sie die Macke hat, wie ihre Schwester, Friedel Menzel, sagt, sollen sich alle davon überzeugen, dass die Schlangen auf ihrem Bett liegen und sie deshalb und nur deshalb im Klo nächtigt. Nächtigen muss.
Was da geredet wird, will Frau Löwenstein wissen. Und meckert: „Die Friedel hat nen Quetschenmull. Das ist Absicht, dass ich nix versteh.“ Ihre Schwester übersetzt den Vorwurf. Sie spräche, als hätte sie eine Zwetschge im Mund. Das meint Frau Löwenstein. Dass sie schwerhörig ist, fast taub, vergisst sie bisweilen. Will man mit ihr in Kontakt treten, muss man in ihr linkes Ohr schreien. Dadurch kommt noch was an.
Ein Hörgerät lehnt sie ab. Befürchtet sie doch, der Ohrenarzt werde ihr ein imaginäres Röhrchen, sie nennt es geheimnisvoll „Mignom“, und damit ihre Freunde, die Männer im Ohr, entfernen. Seit drei Monaten hört sie deren Stimmen. Seit drei Monaten sagen die ihr, wo es langgeht. Mit denen unterhält sie sich ausgezeichnet. Die sprechen immer laut und deutlich, sodass sie sie verstehen kann. Wenn sie Dritten von ihren zahlreichen neuen Freunden berichtet, bekommt sie einen verklärten, träumerischen Blick. Da ist zum Beispiel der junge Mann im Haus gegenüber, der spielt für sie Klavier. „Und singen tut der auch.“ Ein anderer, ein etwas älterer Herr mit nur noch einem Bein, ist ihr bei der Wahl der Kleidung behilflich. Und alle warnen sie vor den Schlangen. Gott sei Dank.
Es klingelt. Frau Löwenstein sitzt mittlerweile in der guten Stube am großen Esstisch mit der voll gekrümelten Spitzendecke. Ungefesselt. Sie plappert munter vor sich hin, erzählt von jungen langen Kerls, die regelmäßig kommen, um sie zum Spaziergang abzuholen. Die sind real: die Zivildienstleistenden. Von denen ist sie begeistert, die lädt sie zu Kaffee und Kuchen ins Café Paulus, mit denen geht sie auch auf Einkaufstour. Zum Beispiel: einen bequemen Lehnstuhl für die Toilette kaufen, auf dem sie besser schlafen und aus dem sie weniger leicht herausfallen kann. Aber manchmal geht sie trotzdem nicht mit den Jungs mit, weigert sich. Dann sind die Stimmen nicht nett zu ihr gewesen. Und drohen ihr mit einer Strafanzeige: Verführung junger Männer.
Gekommen ist kein junger Mann, sondern eine Frau mit braun-grauen Haaren. Sie hat ein großes, freundliches Gesicht und eine kleine Statur, die in einem grauen Hosenanzug steckt. Sie ist auch eine Menzel. Brigitte, die Schwiegertochter der Schwester von Frau Löwenstein. Sie kümmert sich nach der Arbeit um die beiden. Sorgt dafür, dass nicht alles im Chaos versinkt. Wäscht, räumt auf, macht sauber, bereitet das Abendbrot. Gegen die Macken von Frau Löwenstein ist aber kein Kraut gewachsen, auch die Pillen helfen nicht, die Elke Menzel für sie jetzt aus einer Schublade eines Panzerschranks aus Eichenholz nimmt. Montag, Dienstag, Mittwoch … sind die durchsichtigen Plastikschubladen des weißen Tablettendepots beschriftet. Pro Kammerfach fünf Pillen, rötlich, beige und die anderen weiß. Die alle muss Frau Löwenstein schlucken. Bei deren Anblick gruselt es die Alte.
Plötzlich verfolgt sie das Geschehen wieder. Und beschließt: „Heut setz ich mal aus mit der Pillenfresserei.“ Die Menzel im Anzug richtet sich auf und hält dagegen, argumentiert lautstark, aber langsam und beschwörend. Endlich führt Frau Löwenstein erst ein beiges Kügelchen und dann, in Zeitlupe und mit bibbernder Hand, eine Tasse zum Mund, die erste ungeliebte Pille in Selters zu ertränken: ein durchblutungsförderndes Mittel. Die anderen kommen noch, Psychopharmaka sind auch darunter.
Ihr geistiger Verfall vollzieht sich schnell. Er rast. Und die junge Frau Menzel ist rat- und hilflos und abgespannt, so sieht sie zumindest aus. Die Ärzte wissen es auch nicht besser. „Das Alter“, heißt es unisono. Als Frau Löwenstein ihre ersten Nächte im Klo verbrachte, hat Frau Menzel in der gerontologischen Abteilung des hiesigen Krankenhauses um Rat gefragt. Der heiße Tipp am Telefon: „Legen Sie ihr doch ne Matratze rein.“
Die große, laute Wanduhr schlägt viertel zwei, obwohl es schon halb sechs ist. „Wir wollen unsern alten Kaiser Willem widder ham“, tiriliert Frau Löwenstein vor sich hin und kritzelt mit rotem, schon halb eingetrocknetem Filzstift etwas auf die Rückseite eines Briefumschlags. Elke Menzel grinst. Sie kann nicht anders. Aber man sieht, eigentlich ist ihr nicht danach zumute. „Ja, sie reimt, meist Schüttelreime, dichtet Lieder, singt. Und ist dabei fröhlich. Meistens zumindest.“
Doch für heute ist Schluss mit Reimen, Frau Löwensteins Hände, mit den krummen, gichtgeplagten Zeigefingern, umklammern die Tischkante. Aus eigener Kraft versucht sie sich aus ihrem Stuhl hoch in die Senkrechte zu ziehen. Das gelingt, die junge Frau Menzel fasst mit an. Wenn man genau hinschaut, sieht man jetzt zwischen Sophie Löwensteins Küchenschürze, am hautfarbenen Unterrock vorbei, ihr wächsern schimmerndes Beinfleisch. Ihre Unterschenkel sind stark angeschwollen. Deswegen kommt sie nur langsam voran.
„Das kommt, weil sie nur im Sitzen schläft.“ Elke Menzel macht das Angst. Sie ist besorgt: Wasser im Bein und alles schlecht durchblutet. Frau Löwenstein selbst nimmt die Alterserscheinungen gelassen. Auch ohne die letzten Sätze gehört zu haben, erahnt sie das Thema. Sie ist verwirrt, aber nicht doof. „Meine Beine, die sind nicht dick“, verkündet sie.
Wer weiß, vielleicht wird es doch bald eine Matratze im Klo für sie geben. Und Windeln. Die braucht sie unbedingt. Man riecht es trotz Echt-Kölnisch-Wasser-Fahne: Bei Frau Löwenstein gehen nicht nur Tröpfchen daneben.
Das alles wäre halb so schlimm, wenn da nicht die Stimmen und die Viecher in der Wohnung wären. Die sind ihr nicht auszureden, Argumente, Beweise, visuelle Tatsachen erreichen sie nicht mehr oder nur noch selten. Der neueste Tick: Die Löwenstein wähnt sich im Filmgeschäft. In Tiroler Heimatfilmen spielt sie an der Seite schneidiger Jäger wichtige Nebenrollen. Selbst nach Berlin, nach Babelsberg wird sie zum Dreh geholt. Neulich war sie ganz geschafft: Sie sollte Sauereien machen. Bitte? Nachfragen werden abgeblockt. „Na, Sauereien eben.“
Halb drei auf der Schrankuhr. Halb sieben Echtzeit. Es dunkelt draußen. Die Schlangen kriechen langsam aus ihren Verstecken. Sophie Löwenstein hat sich in die Toilette geschlichen und die Tür irgendwie verrammelt. Sie singt – Eigenkompositionen. So hört es sich zumindest an: „Annettchen, Annettchen hat ein güldnes Kettchen …“
* Auf Wunsch der beschriebenen Familie wurden alle Namen geändert.
MARKUS GÖTTE, Jahrgang 1970, lebt als freier Autor vipernfrei in Hannover. Eigentlich beschäftigt er sich beruflich eher mit Berichten über den Alltag im Strafvollzug