: Das rosa Rathaus
Stereotype Nicht nur Wowereit, auch andere Berliner Spitzenpolitiker sind schwul. Muss man sexuell anders begabt sein, um in der Landespolitik Karriere zu machen? Auf den Spuren einer Stammtischparole
VON MARTIN REICHERT
Es begab sich vor nicht allzu langer Zeit, dass ein schwules Paar in der U-Bahn verprügelt wurde – und die Täter sich von ihren Opfern mit den Worten verabschiedeten: „Jetzt nützt euch euer Bürgermeister auch nichts mehr.“
Der „Dialog“ entstammt einem Bericht des schwulen Berliner Antigewaltprojekts Maneo. Und bringt ein verbreitetes, nicht nur an sogenannten Stammtischen gepflegtes Vorurteil auf den Punkt: Die deutsche Hauptstadt, so heißt es, werde von Homosexuellen regiert. Allen voran natürlich von Klaus Wowereit, der „Mutti vons Janze“ – ein Spruch, den der Regierende Bürgermeister einst bei einem Fototermin auf der Jacke trug. Humor sollte man als schwuler Bürgermeister schon haben, anders ist etwa der Besuch eines Fußballspiels, bei dem alle „Hauptstadt der Schwulen“ brüllen, schlecht auszuhalten.
Offenes Schwulsein
Hauptstadt der Schwulen? Muss man etwa schwul oder lesbisch sein, um in Berlin erfolgreich Landespolitik machen zu können? Tatsächlich ist nicht nur Klaus Wowereit offen homosexuell. Auch an den Spitzen der Parteien stehen viele Schwule: Jan Stöß als Landeschef bei den Sozialdemokraten, Klaus Lederer bei den Linken. Daniel Wesener ist Vorsitzender der Berliner Grünen. Und bei den Piraten war bis Anfang des Monats mit Andreas Baum ein Schwuler Fraktionschef.
Allein die Frage nach dem Zusammenspiel von Schwulsein und Erfolg in der Berliner Politik bringt betroffene Politiker allerdings auf die Palme. Der Grüne Daniel Wesener kann es erst mal kaum fassen, dass die taz auf die Idee kommt, eine solche Frage überhaupt zu stellen: „Das ist eine abstruse Fragestellung.“
Wahr ist aber auch: Sie ist – leider – relevant. Schon immer sahen und sehen sich Minderheiten dem Vorwurf ausgesetzt, sie hätten im Vergleich zu ihrem gesellschaftlichen Proporz zu viel Macht inne, sie seien zu laut, beanspruchten zu viel Raum. Bekannt ist dieses Phänomen vor allem durch den modernen Antisemitismus, aber auch Homosexuelle standen insbesondere im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts unter dem Verdacht, das Staatswesen „aushöhlen“ zu wollen. Legendär in diesem Zusammenhang die Moltke-Eulenburg-Affäre, bei der kolportiert wurde, eine homosexuelle Kamarilla um Kaiser Wilhelm II wolle die Macht an sich reißen.
Seltenen Gruppen werden seltene Eigenschaften zugeordnet: Alle Schwulen haben Geld, sehen gut aus und fahren Cabrio – und sie sind mächtig. Die Verschwörungstheorie ist da nicht weit, man muss sich nur den amtierenden Papst anhören, der von einer „Gay Lobby“ im Vatikan schwurbelt.
Auch von „mächtigen Homosexuellenorganisationen“ ist des Öfteren die Rede, die imstande seien, alles Mögliche zu bewegen, und sei es, das Ringen als Sportart von der olympischen Agenda zu verbannen. Der russische Trainer Wladimir Uruimagow hatte dem IOC nach dessen diesbezüglicher Entscheidung unterstellt, Opfer einer Verschwörung von „sexual minorities“ geworden zu sein – und verkündete apokalyptisch, dies sei der Anfang einer schwulen Weltherrschaft.
Daniel Wesener ist trotz seiner Bedenken bereit, sich mit der Frage auseinanderzusetzen. Vielleicht auch, weil er sich noch gut an einen Streit erinnern kann, der in seiner Fraktion 2011 ausgetragen wurde. Damals hatte sein Lebensgefährte Dirk Behrendt für den Fraktionsvorsitz der Grünen kandidiert, woraufhin ein Papier die Runde machte, in dem gewarnt wurde, dass Berlin nicht von einer „Familie“ regiert werden dürfe – in despektierlichen Anführungszeichen.
Wesener sagt trotzdem, er habe in seiner Partei nie negative Erfahrungen wegen seiner Homosexualität erlebt: „Wir hatten bei den Berliner Grünen zwar noch nie eine offizielle Quote, aber Schwule und Lesben werden mitgedacht – da geht es ja auch um Politikfelder.“ Einen „Homo-Klüngel“ hat er noch nie ausmachen können. Im Gegenteil: Er erinnert sich daran, dass seinerzeitige Sondierungsgespräche mit Klaus Wowereit keineswegs von einem besonderen Verständnis füreinander geprägt gewesen seien.
Politisch relevant ist die sexuelle Orientierung für Daniel Wesener allenfalls in bestimmten Punkten: „Ich habe schon den Eindruck, dass die meisten von uns eine Diskriminierungserfahrung haben und daher etwas sensibler für Ungerechtigkeit sind. Und klar, ein wenig hat man auch eine Vorbildfunktion. Es gibt auch in Berlin noch immer Schwule und Lesben, die ihre Orientierung am Arbeitsplatz geheim halten.“
Jan Stöß, Landeschef der SPD, steht zu seinem Schwulsein. Trotzdem will er seine sexuelle Orientierung für sich nicht als politische Kategorie gelten lassen, nicht auf „das Thema“ festgelegt werden. Auf die Frage, ob das Schwulsein zu seiner Politisierung beigetragen habe, antwortete er in einem taz-Interview: „Nein. Das ist Teil meiner Persönlichkeit, aber nicht meiner Politik.“
Für Klaus Lederer, Linken-Landesvorsitzender, hat seine sexuelle Orientierung sehr wohl Einfluss auf seine politische Arbeit – es hat sich in seiner Erinnerung „so ergeben“. Als schwuler Politiker ist es für ihn selbstverständlich, sich für sexuelle Vielfalt einzusetzen. Lederer ist denn auch weniger überrascht als der Grüne Wesener, als er nach der Hauptstadt der Schwulen gefragt wird: „Diese Sprüche habe ich selbst schon gehört, zum Beispiel in der S-Bahn.“
Umzug nach Berlin
In Wirklichkeit, so Lederer, entspreche der Anteil der Schwulen und Lesben in der Lokalpolitik etwa ihrem Anteil an der Berliner Bevölkerung. Was ihn nicht wundert: „Es gibt Ecken in Deutschland, in denen es viel schwieriger ist, sein Leben frei zu gestalten. Daher ziehen die Menschen hierher. Und hinzu kommt, dass die Menschen das in Berlin längst nicht mehr verschweigen.“
Früher sah das anders aus: Peter Kurth war von 1999 bis 2001 CDU-Finanzsenator – und schwul. Das war in politisch interessierten Kreisen bekannt, doch man sprach offiziell nicht darüber. Es galt die alte bundesrepublikanische Regel „Don’t ask, don’t tell“, nach der Homosexualität als Privatsache in der Öffentlichkeit unter Verschluss gehalten wurde, um der Integrität der jeweiligen Person nicht zu schaden. Klaus Wowereit bereitete dieser bis dato üblichen Praxis mit seinem „Ich bin schwul, und das ist auch gut so“ ein Ende. Erst aus diesem Zusammenhang erklärt sich die Kraft seines Bekenntnisses: Die Zeiten, in denen Personen des öffentlichen Lebens mit ihrer angeblich rufschädigenden sexuellen Orientierung erpresst oder denunziert werden konnten, waren damit – im Prinzip jedenfalls – beendet.
Für die Homosexuellen bedeutete dies insgesamt einen großen Fortschritt. Zu Zeiten der rot-roten Berliner Landesregierung sagte man auch in schwulen Kreisen gerne mal scherzhaft, dass die Stadt ja jetzt, wo sie von Klaus & Klaus regiert werde, „uns“ gehöre. Klaus Lederer erinnert sich daran: „Ja, das gab es sicher mal am Anfang, so eine kleine Phase des Stolzes. Und vor zehn Jahren gab es sicher auch noch eher ein Bedürfnis nach Selbstvergewisserung.“
Heute brauche man dieses Gefühl nicht mehr, dass es in anderen Parteien auch noch Verbündete gibt. Zumal Lederer die Gültigkeit des Bildes vom geschlossenen Club bezweifelt: „Man begegnet sich nicht automatisch in der Szene. Viele schwul-lesbische Politikerinnen und Politiker halten sich dort ja gar nicht auf.“
Klaus Lederer will nicht nur offen schwul sein, sondern will ein Bewusstsein schaffen für alle sexuellen Orientierungen und Genderfragen. Er legt Wert auf die Differenzen, ihm reiche es nicht, sagt er, wenn konservative Schwule sich damit zufriedengäben, als „Andere“ akzeptiert zu werden in einer Nische. Er will sich nicht gemeinmachen mit „sozialdemokratischen Gleichheitsreflexen“, wie er sie zum Teil auch noch in seiner Partei antrifft: „Mir geht es um einen queeren Politikansatz, um sexuelle Vielfalt. Es geht auch darum, auf Mehrfachdiskriminierungen aufmerksam zu machen – und nicht nur um das Wohl von weißen Mittelschicht-Homos.“
In der Tat kann, wer sich mit den Auseinandersetzungen in der Homo-Politszene Berlins ein wenig beschäftigt, kaum auf die Idee kommen, dass es sich um einen solidarisch-verschwörerischen Klüngel handelt. Vielmehr wird hier mit harten Bandagen gekämpft, es geht um Interessen, politischen Profit und Wählerstimmen, Fördergelder und Ideologien.
Keine Vetternwirtschaft
Tatsächlich kommen die Schwulen in landespolitischen Spitzenpositionen ja eben nicht aus einer Partei, also aus einem möglichen Beziehungsgeflecht. Wo das doch der Fall ist – etwa bei den Genossen Klaus Wowereit und Jan Stöß – kann der Verdacht, der eine hätte dem anderen einen Vorteil verschafft, getrost ausgeschlossen werden: Für Wowereit wäre es sehr viel angenehmer, sein Kronprinz und Vertrauter Michael Müller wäre Landeschef geblieben. Jan Stöß mag die gleiche sexuelle Orientierung wie Wowereit haben – das Leben macht er dem Regierenden mit seinen Einwürfen eher schwer.
Und die Lesben? Männer und Frauen liegen nicht mal bei der Akzeptanz von Homosexualität gleichauf. So erklärt Anja Kofbinger, frauen- und lesbenpolitische Sprecherin der Grünen im Abgeordnetenhaus, Lesben hätten auch im Politikbetrieb noch immer größere Schwierigkeiten, sich zu outen. „Sie sind zurückhaltender, und das liegt sicher auch daran, dass sich das schwule Stereotyp positiv gewandelt hat. Doch bei den Lesben heißt es noch immer: Die sind nicht so lustig und haben keine schönen Schuhe. Es liegt aber auch daran, dass das Berliner Parlament insgesamt nicht sehr jung ist, denn die jungen Lesben holen gerade ordentlich auf.“
Anja Kofbinger beziffert die Anzahl der Schwulen und Lesben auf 15 im Berliner Abgeordnetenhaus, „damit wären wir bei – konservativ geschätzten – 10 Prozent Schwulen und Lesben in Berlin nicht überrepräsentiert, sondern genau im Schnitt“.
Eine offizielle Erhebung zum schwul-lesbischen Bevölkerungsanteil in Berlin gibt es nicht. Die Hauptstadt der Schwulen ist die Stadt aber insofern, als queere Menschen in Berlin bessere Lebensbedingungen vorfinden als anderswo – und es auch in der Landespolitik nicht mehr nötig haben, Versteck zu spielen.