: Katharsis im Gefängnis
DRAMA Schon Aristoteles sagte, Theater kann Menschen zum Besseren verändern. Zeina Daccache macht Theater mit Gefangenen in Beirut
■ Wo: Erscheint täglich in französischer Sprache im Libanon. Die Redaktion sitzt in der Hauptstadt Beirut.
■ Seit wann: Die Zeitung entstand Anfang der 70er Jahre durch die Fusion der französischen Blätter L’Orient und Le Jour.
■ Wer liest es: Sie wird von der französischsprachigen Bevölkerung – Christen und Muslimen – gelesen.
■ Wie viele: Die Auflage liegt bei etwa 18.000 Exemplaren. Das Blatt ist damit die drittgrößte Zeitung des Landes.
■ Besonderes: Die Berichterstattung gilt, gemessen am westlichen Standard, als vorsichtig regierungskritisch. Sie bietet eine gute Informationsgrundlage über das Geschehen im Land. Neben Wirtschafts- und Gesellschaftsthemen sowie Analysen zur nationalen und internationalen Politik pflegt L’Orient-Le Jour eine eigene Debattenkultur. Gastbeiträge sind die Regel.
AUS BEIRUT NADA MERHI
Ein Morgen im Mai: Im Zentralgefängnis Roumieh im Osten Beiruts herrscht hektisches Treiben. Mehrere Dutzend Gefangene, davon einige zu lebenslänglicher Haft verurteilt, bereiten alles vor, um ihre berühmten Gäste zu empfangen: die Musiker und Sänger Fadi und Rami Chehade, The Chehade Brothers, den Geiger Rabih Abou Serhal und Michel Elefteriades, Gründer und Inhaber des Labels Elefrecords.
Für die Insassen des überfüllten Gefängnisses ist dieser Besuch ein großes Ereignis. Die Haftanstalt Roumieh verfügt eigentlich über 1.500 Plätze, nach einem Bericht des libanesischen Menschenrechtszentrums sitzen inzwischen jedoch mehr als 3.500 Männer ein.
Alltagsmonotonie
Wie in allen libanesischen Gefängnissen sind auch hier nahezu alle Tage gleich trüb und grau, zwischen den abgenutzten Gefängnismauern ziehen sie sich endlos in die Länge. Außer bei Besuchen der Familie und der Anwälte gibt es kaum Kontakt zur Außenwelt. An diesem einen Tag im Mai wird die Monotonie durchbrochen.
Die Künstler sind auf Einladung der NGO Catharsis gekommen, einer Non-Profit-Organisation für Theatertherapie im Libanon und Mittleren Osten, um den neuen Veranstaltungsraum einzuweihen.
Vor fünf Jahren erfuhren zahlreiche Insassen in Roumieh zum ersten Mal eine Veränderung in ihrem tristen Alltag: Damals nämlich führte die Schauspielerin, Theatertherapeutin und Catharsis-Geschäftsführerin Zeina Daccache die Theatertherapie im Gefängnis ein.
„Zeina hat uns unsere Menschlichkeit zurückgegeben“, sagt Atef, ein Gefangener, und beklagt sich über „die Vernachlässigung, die Ausgrenzung und die Routine, unter der wir hier leiden“. Er zeichnet ein düsteres Bild: „Für die Menschen draußen sind wir Kriminelle, wir haben die Strafe bekommen, die wir verdienen“, sagt er. „Mit der Theatertherapie konnten wir uns ein Bild von unserer Situation machen, und zwar als Menschen. Auch die Besucher, die Zeina eingeladen hat, sehen uns am Ende mit anderen Augen – mit wohlwollendem Blick.“
Ali, ein weiterer Gefangener, mischt sich ein: „Die Gesellschaft ist sehr streng mit uns. Sie steckt alle Gefangenen in einen Sack und verurteilt sie pauschal, ohne sich je zu fragen, ob es unter diesen ‚Kriminellen‘ vielleicht auch unschuldig Verurteilte gibt. Oder Straftäter, die nur auf eine Chance warten, sich zu ändern.“
Und Khalil, der zu fünf Jahren Haft verurteilt, erklärt, dass die Theatertherapie ihm ermöglicht habe, „wieder in Kontakt mit mir selbst zu kommen – und dann auch mit meiner Familie, die ich seit Jahren nicht mehr sehen wollte“. Am Anfang fand er die Übungen ziemlich seltsam, sagt er. „Ich habe mitgemacht, weil ich nichts anderes zu tun hatte. Es war ein Zeitvertreib, aber ich habe schnell begriffen, dass es ernst gemeint war, und im Laufe der Stunden habe ich mich allmählich besser gefühlt. Ich habe gelernt, ‚wir‘ zu sagen und in einer Gemeinschaft zu denken, nicht mehr nur als Einzelner.“
Nach dem ersten Jahr Theatertherapie in Roumieh führten die Insassen im Gefängnis das Stück „Zwölf wütende Libanesen“ auf, eine freie Adaption von Reginald Roses Drama „Twelve Angry Men“ – Die zwölf Geschworenen. In dem Stück ging es um die Probleme und Forderungen der Häftlinge. Die Aufführung wurde hoch gelobt. Und der Dokumentarfilm „Twelve Angry Lebanese“, der auf Aufforderung zahlreicher Zuschauer im Anschluss entstand, weil sie wissen wollten, was sich hinter den Kulissen abgespielt hatte, wurde auf vielen internationalen Filmfestivals ausgezeichnet.
Die positive Erfahrung von Roumieh ermutigte die Theatertherapeutin, ihre Arbeit im Frauengefängnis von Baabda im Osten Beiruts fortzusetzen, und zwar auf Bitten der Gefangenen, die von der gelungenen Aufführung ihrer männlichen Kollegen gehört hatten. Ab 2011 konnten vierzig Frauen an einem Theaterworkshop teilnehmen. Zum Abschluss führten sie das Stück „Scheherazade“ auf über die „1.001 Nächte“ im „Königreich“ der Insassinnen von Baabda, das „die Atmosphäre der 1.001 Verhaftungen“ widerspiegelt.
Ebenso wie ihre „Brüder“ in Roumieh sprechen auch die beteiligten Frauen von einer „Wiedergeburt“, vom „Willen zur Veränderung“ und von „Freiheit“. „Zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich Menschlichkeit in den Augen der anderen“, sagt Fatma. „Vielleicht haben sie begriffen, dass ich keine böse Kriminelle bin, sondern eine Frau, die Opfer eines Unrechts geworden ist.“
Gedankenfreiheit
MARIAM, INSASSIN DES FRAUENGEFÄNGNISSES BAABDA IM OSTEN BEIRUTS
Mariam nickt. Sie wurde verurteilt, weil sie den Vatermord ihres Sohnes verschwieg. „In der Theatertherapie habe ich gelernt, meine Stimme zu erheben, wo ich doch immer gewohnt war, zu schweigen. Ich habe es noch nicht einmal gewagt, meinen Mann anzuzeigen, der mich vergewaltigt und meinen Sohn und meine Tochter sexuell missbraucht hatte“, erzählt sie. „Hier in diesen Mauern habe ich gelernt, was Freiheit bedeutet.“
Zeina Daccache, die sich seit ihrer Jugend sozial engagiert, ist stolz auf die breite Wirkung ihrer Arbeit. „Inzwischen zählt die Theatertherapie zu den Aktivitäten, die im Gesetz Nr. 463 als Grund für einen Straferlass aufgeführt werden“, berichtet sie. „Sie gehört zu den Kriterien, die die Richter überprüfen, wenn sie den Antrag eines Häftlings auf Straferlass untersuchen.“
Sie sei überzeugt, dass man der Kunst keine Schranken setzen sollte, fährt sie nach kurzer Pause fort. „Alle Gesellschaftsschichten sollten Zugang zur Kultur haben, auch diejenigen, die ganz am Rande stehen.“ Wer sage denn, fragt sie, dass man nur auf den Bühnen draußen Theater spielen kann? „Und wer sagt, dass die Gefangenen kein Anrecht auf Theater und Therapie haben, obwohl sie beides doch gerade am meisten nötig haben? Was gibt es denn Besseres, als diese beiden Disziplinen zu verschmelzen, um ihnen zur Hilfe zu kommen?“
Zeina Daccaches Arbeit in den Gefängnissen beschränkt sich nicht allein auf die Theatertherapie. Die junge Frau hat auch einen Maskenbildner-Workshop für die weiblichen Häftlinge organisiert. Wer ihn erfolgreich absolviert, erhält ein staatlich anerkanntes Diplom. Ihre NGO Catharsis unterhält zudem einen Leseclub im Gefängnis Baabda.
Auch für das Männergefängnis Roumieh denkt sich die NGO Catharsis immer neue Projekte aus. So haben einige Insassen an einem Workshop zur Drumtherapy teilgenommen – einer Therapie mit Djembé-Trommeln. Über siebzig weitere Gefangene kamen zur Kerzenherstellung. Catharsis kümmert sich um den Verkauf der Kerzen. Der Erlös gehe komplett an die Häftlinge“, versichert Zeina Daccache. „Mein größter Wunsch ist es, das Projekt dauerhaft abzusichern. Ich wünsche mir, dass die Theatertherapie Teil eines landesweiten Projekts zur Rehabilitierung von Straftätern wird und dass diese Workshops in allen Gefängnissen unseres Landes angeboten werden.“
Aus dem Französischen von Sabine Jainski