: „Die Willkür von Diktatoren“
Interview GEORG BLUME
taz: Mit der Wochenbeilage „Bingdian“ der Chinesischen Jugendzeitung hat die Pekinger Zensurbehörde zum ersten Mal seit 1986 einen Zeitungsteil komplett eingestellt. Sie waren zehn Jahre Chefredakteur von „Bingdian“, Ihr Name stand in ganz China für kritischen Journalismus. Mussten Sie nicht mit diesem Ende rechnen?
Li Datong: Meine persönliche Absetzung war immer denkbar, aber nicht die abrupte Einstellung einer Zeitung, die bei den Lesern beliebt war und unter Journalisten einen guten Ruf genoss. Diese Entscheidung verstößt gegen Verfassung, Gesetz, Parteistatut und Parteidisziplin. Sie erinnert mich an die Willkür von Diktatoren. Ich habe deshalb diese Woche eine Klage bei der Disziplinkontrollkommission der Partei eingereicht.
Wie erklären Sie die neue Nervosität der Zensoren?
Die Verschärfung der Zensur ist eine Reaktion auf die komplizierte Lage der KPCh. Außenpolitisch wird die Partei nach wie vor durch die Folgen des Zusammenbruchs der Sowjetunion infrage gestellt; siehe die gewaltlose Revolution in der Ukraine. Innenpolitisch hinkt die politische Reform den Entwicklungen auf allen anderen gesellschaftlichen Ebenen immer stärker hinterher. Die Korruption im Beamtenapparat erscheint im derzeitigen System nicht mehr eindämmbar zu sein. Es gibt unzählige lokale Protestaktionen. In dieser Lage hat die Regierung Angst. Jeder kleine Zwischenfall kann größere Unruhen auslösen. Also will sie nicht erlauben, dass in den Medien vom Parteikurs abweichende Stimmen laut werden.
Hat die Regierung die sozialen Proteste nicht durchaus selbstkritisch und öffentlich problematisiert?
Ich zweifle nicht daran, dass die Regierung in Peking die soziale Lage verbessern will. Aber sie ist in vieler Hinsicht machtlos. Ihre Entscheidungen scheitern am Widerstand der Bürokratie.
War der Zentralregierung nicht gerade aufgrund ihrer Isolation die kritische Berichterstattung in manchen Blättern als Wegweiser wichtig?
Das gilt nicht für die Propagandaabteilung der Partei. Sie kontrolliert die Medien und wird immer von den stursten Kadern geleitet, die nicht einmal der Generalsekretär beeinflussen kann. Als Chefredakteur hatte ich nie das Gefühl, dass mich die Regierung ermutigt, die Wahrheit zu berichten.
Vor gut knapp drei Jahren trat die neue KP-Führung unter Generalsekretär Hu Jintao an. Damals herrschte doch unter Journalisten in China Aufbruchstimmung?
Hu Jintao hatte kurz nach seiner Ernennung persönlich für eine kritischere Berichterstattung beim Staatsfernsehen interveniert. Bis zu 80 Prozent Kritik in den Nachrichten seien erlaubt. Damals waren wir Journalisten begeistert. Wir dachten, eine neue Zeit sei gekommen. Aber die schöne Zeit dauerte nicht lang. Bald war alles wieder beim Alten. Schlimmer noch: Die Propagandaabteilung verschärfte letztes Jahr die Zensurvorschriften, indem sie den Medien verbot, in anderen Provinzen zu recherchieren – ein Berichtsverbot, das praktisch jeden Enthüllungsjournalismus unmöglich machte, da es in China sehr schwer ist, kritisch über die eigene Provinz zu berichten.
Wie effektiv ist die Zensur im Allgemeinen?
Sehr effektiv. Hier zeigt die Partei eine Lernfähigkeit, an die man sonst kaum mehr glauben mag. Nehmen Sie den Fall von „Bingdian: Alle anderen Medien durften über unsere Schließung nicht berichten. Im Voraus wurde nicht nur mein Name, sondern auch mein persönlicher Blog im Internet gesperrt. Man wollte verhindern, dass ich über die Schließung berichte. Wer heute etwas im Internet mit den Wörtern „Bingdian“ oder „Li Datong“ schreibt, dessen Eintrag wird sofort gelöscht.
Trotzdem ist heute jeder Journalist in China über Ihren Fall gut informiert.
Weil die Internetbenutzer sehr klug sind. Sie haben ihre Tricks. Sie setzen eine Null oder einen Bindestrich zwischen die zwei Schriftzeichen für Bing und Dian, und schon ist die Zensur überlistet. Das Internet ist heute die wichtigste und effektivste Waffe im Kampf gegen eine Diktatur.
Macht Sie diese Waffe optimistisch?
Nein. Ein diktatorisches Regime lässt sich nicht durch die Meinung des Volkes verändern.
Wie viel Unterstützung bekommen Sie?
Ich bin sicher, dass hundert Prozent aller Medienleute in China auf meiner Seite stehen. Aber sie trauen sich nicht, das öffentlich zu sagen.
Wie beurteilen Sie das Verhalten der großen westlichen Internetfirmen wie Yahoo, Microsoft und Google, die heute Chinas Zensurvorschriften anerkennen?
Diese Firmen haben einen großen Beitrag zur Demokratisierung und Informationsverbreitung in China geleistet. Die scharfe Kritik des Westens, die sie dafür nun auf sich ziehen, haben sie nicht verdient. Man kann von ihnen schließlich nicht verlangen, dass sie sich offen einer tyrannischen Regierung widersetzen. Wir aber sind von ihrer Präsenz in China weiter abhängig. Ein Beispiel: Für meinen Namen habe ich bei Google 118.000 Einträge gefunden, bei der chinesischen Suchmaschine Baidu dagegen nur 10 Einträge.
Yahoo hat private Informationen eines Journalisten an die Polizei weitergegeben, der deshalb anschließend zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde.
Unsere Verfassung garantiert die Freiheit des privaten Briefverkehrs. Das Verhalten von Yahoo war insofern verfassungswidrig und völlig inakzeptabel.
Geht es den Zensoren um mehr als nur die Unterdrückung von Kritik?
Die Legitimität einer regierenden Partei muss regelmäßig bestätigt werden. Im Westen geschieht das durch parlamentarische Wahlen, in einem Einparteienstaat durch ideologische Kontrolle. Dabei geht es nicht nur um die Legitimität in der Gegenwart, sondern auch um die in der Geschichte.
Sie spielen auf die kritischen historischen Essays an, die Sie veröffentlichten …
In chinesischen Schulbüchern werden viele historische Wahrheiten vertuscht, weil die KP der Jugend eintrichtern will, dass sie die einzige legitime Regierungspartei ist. Ein typisches Beispiel ist der Krieg gegen Japan 1937–45: Es ist völlig klar, dass die nationalistische Kuomintang (KMT) aufseiten Chinas damals die entscheidende Rolle im Kampf gegen Japan spielte. 1,3 Millionen KMT-Soldaten starben, 3 Millionen wurden verletzt. Die KP hat dagegen eher als Guerilla im Hinterland gekämpft. Aber in allen Schulbüchern steht, die KP hätte den Krieg gegen Japan geführt, während die KMT nur auf der Flucht gewesen sei. Als wir das in einem Artikel richtig stellen wollten, gab es folglich Ärger. Ebenso im Streit um die Zahl der Kriegsopfer. Laut KP starben 35 Millionen Chinesen im Kampf gegen Japan. Wir glaubten, dass die Zahl stark übertrieben sei. KMT-Dokumente aus der Nachkriegszeit, die uns vorlagen, sprechen von 6 bis 8 Millionen, allerhöchstens 10 Millionen Opfern.
Reichte Ihre Kritik auch bis in die Gegenwart?
Wir haben wahrheitsgemäß über den Erfolg der Demokratisierung Taiwans nach 1988 berichtet. Die KP betont immer wieder, dass die politischen Ideen des Westens, Gewaltenteilung und Demokratie, sich für China nicht eignen. Das demokratische System Taiwans, wo auch Chinesen leben und dieselben Traditionen gelten, stellt deshalb eine große Herausforderung für das Einparteiensystem dar.
1988, zum Beginn der Demokratisierung Taiwans, lag das taiwanische Pro-Kopf-Einkommen drei- bis viermal so hoch wie das chinesische Pro-Kopf-Einkommen heute. Auch im Westen glauben deshalb viele, dass es für die Demokratie in China noch zu früh ist.
Ich frage Sie: Wie hoch ist das Pro-Kopf-Einkommen Indiens? China braucht die größten politischen Zivilisationserfolge der Menschheit, braucht die Gewaltenteilung und Demokratie. Wie anders lässt sich unser politisches System vervollständigen? Mehr Freiheit kann uns nur Vorteile bringen. Ob in Amerika oder in Deutschland und Japan nach dem Krieg: immer war die Demokratie der tief liegende Grund für eine erfolgreiche Entwicklung.
Befürworter der KP sprechen von der Effizienz des Zentralismus in China. Es gebe zwar Korruption, aber auch einen starken Staatsapparat, der die Grundbedürfnisse befriedige.
Das halte ich für ganz falsch. Die Sozialversorgung ist heute auf erschreckend niedrigem Niveau. Viele können es sich nicht leisten, ihre Kinder zur Schule zu schicken oder sich bei Krankheiten behandeln zu lassen. Viele haben keine Wohnung. Das sozialistische Sozialversicherungssystem ist zusammengebrochen. Die Gesellschaft spaltet sich rasch. In den Taschen von ganz wenigen Leuten häuft sich der Reichtum.
Ist das nicht normal in einer Phase des Frühkapitalismus?
China erlebt heute die denkbar schlechteste Form des Kapitalismus. Es ist ein „Kapitalismus der Mächtigen“, in dem Kapital und Macht aufs engste kooperieren. Wie viele blutige Unfälle gibt es täglich in unseren Fabriken? Wie viele Arbeiter, denen Maschinen die Hände abhackten, warten verzweifelt auf Entschädigung? Diese frühkapitalistischen Sünden dürften sich nicht wiederholen.