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Archiv-Artikel

Simulation von Normalität

Nach dem 3.000-Meter-Eisschnelllauf arbeiten Anni Friesinger und Claudia Pechstein ihre mäßige Leistung auf und fragen sich, warum sie einer Holländerin, Ireen Wust, nicht folgen konnten

AUS TURIN FRANK KETTERER

Später am Abend waren Anni Friesinger und ihr Trainer Markus Eicher dann noch beim Italiener um die Ecke, Essen hält ja Leib und Seele zusammen. Vor allem Friesingers Gemüt, so hätte man denken mögen, hatte ja ein paar lukullische Streicheleinheiten nötig, aber so richtig bestätigen wollte das Markus Eicher anderntags nicht. Fröhlich und entspannt habe „die Anni“ jedenfalls mit ihm am Tisch gesessen und getafelt. „Die Enttäuschung war nicht riesengroß.“

Zumindest die Überraschung aber dürfte enorm gewesen sein am Vorabend im Oval Lingotto, nicht nur bei Friesinger, sondern auch bei Claudia Pechstein. Die beiden Eis-Diven zählten zum engsten Favoritenkreis für das Rennen über 3.000 Meter, aber dann sollte doch alles ganz anders kommen: Die Medaillen gingen an die erst 19-jährige Ireen Wust, ihre niederländische Landsfrau Renate Groenewold und Weltrekordlerin Cindy Klassen aus Kanada, für Friesinger und Pechstein blieben die Plätze vier und fünf. Nur vier und fünf.

Das Material hätte als Erklärung herhalten können, schließlich hatten die Holländer just einen Tag vor der Eröffnungsfeier ihren neuen Wunderschlittschuh vorgestellt, der ein Gestell aus Titanium hat, 100 Gramm leichter als die herkömmlichen Modelle sein soll und drei Zehntel pro 500 Meter schneller. Aber daran, sagte Friesinger noch am Abend, lag es nicht: „Die Frauen fahren nicht auf neuen Schlittschuhen.“ Friesinger muss es wissen, sie ist mit einem Holländer verbandelt. Also: Vielleicht waren die beiden Deutschen von der Zeit, die Juniorenweltmeisterin Wust vorgelegt hatte, geschockt, so sehr, dass sie anschließend verkrampften? „Nein“, widersprach Claudia Pechstein. „Ich habe alles gegeben, aber ich war total blau – im wahrsten Sinne des Wortes.“ So ging die Fahndung nach Ursachen noch im Eisoval weiter, ehe beide Damen beschlossen, so etwas wie Normalität zu simulieren. „Es ist noch nichts verloren. Die Spiele haben doch gerade erst begonnen“, fand Pechstein.

Das ist einerseits nicht von der Hand zu weisen, andererseits aber auch so, dass speziell Pechstein nun doch ein wenig unter Druck steht. Vor vier Jahren in Salt Lake City war die Berlinerin Doppelolympiasiegerin über 3.000 und 5.000 Meter geworden, mit zweimal Einzel-Gold wird sie aus Turin schon nicht mehr nach Hause fahren. Und ob die deutschen Frauen in der Team-Verfolgung (Mittwoch und Donnerstag) tatsächlich so unschlagbar sind, wie man sie bis vor kurzem noch einschätzte, ist seit diesem Sonntag zumindest fraglich.

Da scheint Anni Friesinger, Pechsteins ewige Konkurrentin auf und neben der Eisbahn, in einer komfortableren Situation. Zum einen hatte zumindest ihr Trainer im 3.000-Meter-Rennen ohnehin nicht unbedingt mit Gold gerechnet. Zum anderen war der Ausgang des Auftaktrennens nicht mehr als ein Déjà-vu für sie: Vor vier Jahren war die Inzellerin schließlich sogar als die große Topfavoritin über 3.000 Meter gestartet – und ebenfalls als Vierte ins Ziel gekommen. Sie kennt die Situation – und weiß, Zuversicht aus ihr zu schöpfen. „Auch in Salt Lake gab es schließlich ein Happyend“, sagt Friesinger, in Form von Gold über 1.500 Meter. „Sie hat hier noch fünf Chancen“, rechnet Trainer Eicher vor und sagt: „Ich weiß genau, dass wir was gewinnen werden.“

Mit der Fehlersuche hat er dennoch schon mal begonnen. Und sogar einen bei sich selbst gefunden: Weil im Vorfeld von einer Schnittwundenverletzung am Fuß gehandikapt, hatte Friesinger die EM im Januar sausen lassen, um im Training an ihrer Form zu feilen. „Vielleicht hat ihr deshalb die Wettkampfhärte etwas gefehlt“, hegte Eicher nun zumindest Zweifel an der Richtigkeit dieser Entscheidung. Einen eher prinzipiellen Fehler macht der Trainer hingegen beim Verband und seinen Strukturen aus. Die Holländerinnen, so Eicher, seien auch deshalb so gut, weil sie gemeinsam in Profiteams und dort im Verbund mit Männern trainierten, dem deutschen Verband hingegen fehle eine solche Struktur. Zwar hat Anni Friesinger vor zwei Jahren das holländische Modell auf Privatbasis zu imitieren versucht, doch langfristig funktioniert hat das nicht. „Anni trainiert ziemlich isoliert und hat keine richtigen Trainingspartner“, klagt Eicher jedenfalls. Und fordert deshalb die Gründung eines deutschen A-Teams, in dem dann die besten deutschen Läufer sich gegenseitig zu Höchstleistungen anstacheln sollen, anstatt dass jeder für sich allein trainiert.

Einleuchtend sind Eichers Argumente allemal. Allerdings hat sich der deutsche Eisschnelllauf in seiner Gesamtheit zuletzt wenig homogen präsentiert, von Zusammenarbeit ganz zu schweigen. Vielleicht hat Günther Schumacher, der Sportdirektor der Deutschen Eisschnelllauf Union auch daran gedacht, als er am Montag feststellte: „Es ist nicht immer einfach, dass alle an einem Strang ziehen.“