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Archiv-Artikel

Der Fluch der Westalgie

Die hiesige Familienpolitik orientiert sich noch immer an den westdeutschen Realitäten. Dabei ließe sich aus den DDR-Erfahrungen viel lernen. Eine Erwiderung auf Robert Misik

Berufstätige Mütter haben im Osten Tradition. Vom Ehegattensplitting profitieren sie deshalb kaum

Wenn das Private politisch ist, müsste Claudia Nolte eigentlich als Feministin gelten. So konservativ die frühere CDU-Familienministerin auch war, ihr Rollenverständnis dürfte die meisten Westmänner in der Union zutiefst irritiert haben. Denn die Ostdeutsche machte Karriere, während die Kinder von ihrem Mann betreut wurden. Nicht die Großmutter, keine Tagesmutter – ihr Mann blieb zu Hause. Doch arbeitende Mütter waren im Osten Deutschlands schon zu DDR-Zeiten so normal wie Ganztagskindergärten. Die christlich-konservative Hegemonie, die Robert Misik kürzlich (taz vom 6. 2.) so heftig beklagte, sie gibt es im Osten schon lange nicht mehr. Der Werteklimbim von der Aufgehobenheit, die es nur in der Familie gäbe, ist im Osten seit Jahrzehnten nicht mehr dominant.

Schon 1965 schrieben Werner Commandeur und Alfred Sterzel, zwei Westdeutsche, ein Buch über ihre „Begegnungen zwischen Dresden und Rügen“, Titel: „Das Wunder drüben sind die Frauen“. Sie hatten DDR-Frauen interviewt und waren schon damals überrascht, wie die meisten Frauen Kinder und Beruf vereinbarten, dass viele in verantwortlichen Positionen arbeiteten und dies für völlig normal hielten. Sie staunten darüber, dass sich Männer offenbar nicht daran störten, wenn sie eine Frau als Vorgesetzte hatten. Und selbst die hohe Frauenarbeitslosigkeit nach 1989 hat im Osten nicht dazu geführt, dass sich Frauen wieder auf die reine Hausfrauenrolle reduzieren lassen.

Auch in Westdeutschland bröckelt die christlich-konservative Front seit Jahren: In Großstädten wie Hamburg, Köln und München sind Ganztagskitas inzwischen üblich, und Frauen wie Rita Süssmuth, Annette Schavan und Ursula von der Leyen stehen zumindest selbst nicht für das Hausfrauenmodell. Problematisch ist also längst nicht mehr die Haltung der Konservativen. Viel problematischer sind die grundsätzlichen Unterschiede zwischen dem Familienbild in Ost- und Westdeutschland. Eine gesamtdeutsche Familienpolitik ist zum Scheitern verurteilt, wenn sie auf diese Unterschiede nicht eingeht.

So geistert seit Monaten eine Zahl durch die Medien, wonach in Deutschland bis zu 40 Prozent der Akademikerinnen kinderlos seien. Diese Zahl verwischt die deutlichen Ost-West-Unterschiede: Laut Mikrozensus waren 2001 im Westen 42,2 Prozent der Akademikerinnen ohne Kinder, im Osten waren es ganze 17,3 Prozent. Man mag den Hinweis auf diesen Ost-West-Unterschied kleinlich finden. Aber nur wer ihn kennt, kann ernsthafte Lösungsvorschläge vorlegen.

Im Westen braucht es eine breitflächige Verbesserung der Kinderbetreuung. In der DDR waren kostenlose Ganztagskindergärten dagegen Normalität. Bis heute kann sich jede Frau im Osten deshalb darauf verlassen, dass sich in ihrer Nähe eine Ganztagskita findet, wenn sie eine braucht. Genau diese Sicherheit fehlt in Westdeutschland, und daran werden auch Elterngeld und Steuersparmodelle nichts ändern.

Interessant ist, dass Robert Misik zwar die Familienmodelle in verschiedenen europäischen Ländern vergleicht, aber keinen ernsthaften Blick auf das Steuerrecht wirft. Die deutsche Sonderregelung Ehegattensplitting ist ihm keine Erwähnung wert. Auch hier gibt es nämlich sehr deutliche Ost-West-Unterschiede: 90 Prozent der Mittel für das Ehegattensplitting fließen nach Westdeutschland, nur 10 Prozent in den Osten. Es gibt im Osten nämlich kaum Ehen mit extrem großen Gehaltsunterschieden.

In der DDR hat es das Ehegattensplitting nie gegeben, das staatliche Ziel war die 2-Verdiener-Ehe. Schon in den 50er-Jahren wurde die Erwerbstätigkeit der Frauen aktiv unterstützt; in den Betrieben gab es sogar Frauenförderpläne.

Auch nach der Geburt von Kindern wurden Frauen bei der schnellen Rückkehr ins Berufsleben unterstützt. Alle Mütter bekamen einen Haushaltstag pro Monat, also einen bezahlten freien Tag. Vollbeschäftigte Mütter mit mehr als einem Kind brauchten nur 40 statt 43,5 Stunden pro Woche zu arbeiten und erhielten gleichzeitig einen höheren Mindesturlaub. Außerdem gab es in der DDR staatlich subventioniertes Schulessen – eine Entlastung für Eltern, die sich nicht um das warme Mittagessen für ihre Kinder kümmern mussten.

Nahezu alle familienpolitischen Maßnahmen waren auf Frauen ausgerichtet. Feministische Ansätze spielten dabei allerdings keine Rolle, die berufliche Förderung der Frauen hatte überwiegend volkswirtschaftliche Gründe. Doch die ökonomische Selbstständigkeit der Frauen hat zu DDR-Zeiten relativ schnell Ergebnisse gezeitigt. Es war für Frauen wie für Männer selbstverständlich, dass Frauen ein eigenes Einkommen haben. Zwar bekamen auch in der DDR Frauen im Schnitt für gleiche Arbeit weniger Lohn als Männer. Trotzdem hatten sie in der DDR auf der ökonomischen Ebene einen deutlichen Vorsprung in Sachen Gleichberechtigung. Dieser Vorsprung ist bis heute erhalten geblieben.

Im Westen dagegen sind große Gehaltsunterschiede zwischen den Ehepartnern nach wie vor üblich. Das Ehegattensplitting fördert ganz klar die 1-Verdiener-Ehe. Nutzen ziehen aus dieser Förderung überwiegend westdeutsche Ehen. Wer das Ehegattensplitting abschaffen oder wenigstens reduzieren würde, könnte sich neben familienpolitischen Ehren also durchaus auch deutsch-deutsche Einheitslorbeeren verdienen.

Im Westen fehlt es an Kitas. Daran werden auch Elterngeld und Steuersparmodelle nichts ändern können

Ein Kulturbruch für Ost wie West wäre allerdings die Kopplung familienpolitischer Leistungen an die Erziehungszeiten von Vätern, wie Ursula von der Leyen sie plant. Auch in der DDR war Kindererziehung überwiegend Frauensache. Allerdings mussten die Betriebe damals Rücksicht auf die Mütter nehmen; zuweilen taten sie das mit eigenen Betriebskindergärten. Heute muss das Berufsleben prinzipiell im Sinne der Väter und Mütter viel flexibler werden. Selbst gewählte Teilzeitarbeit und Pausen im Erwerbsleben müssen selbstverständlich werden. Es muss aufhören, dass Arbeitgeber über Arbeiternehmer verfügen können wie über Leibeigene. Dieses Problem lässt sich in Ost wie West nicht durch Kitas oder Tagesmütter lösen. Hier braucht es einen klaren Mentalitätswechsel.

Mit den zwei Papa-Monaten, wie sie von der Leyen vorschlägt, hätten Väter bessere Möglichkeiten, sich Zeit für ihre Kinder zu nehmen. Auch im Osten machen das nur wenige. Dort fällt das Ungleichgewicht bei der Kinderbetreuung aber weniger auf, weil die Mütter einen Teil ihrer Erziehungsarbeit in die Kitas auslagern können. Diese Möglichkeit haben viele Mütter in Westdeutschland nicht.

Die Familienpolitik der Bundesrepublik war und ist westdeutsch geprägt. Dieser Mangel lässt sich bis jetzt noch gut mit dem Ursula-von-der-Leyen- Hype kaschieren. Doch in der Substanz wird sich auch jetzt nichts ändern. Es sei denn, die Familienpolitiker richten ihren Blick endlich mal auf Erfahrungen, die im Osten dieses Landes gemacht wurden, statt immer nur nach Skandinavien zu schielen. NILS FLORECK