Geschichten vom Sprung in eine andere Realität

WUNDERSAMES Als Gott noch ein krabbelndes Kind war und mit Dreckklumpen spielte: Roland E. Koch und sein ausgezeichneter Kurzgeschichtenband „Geheime Kräfte“

Dieser Autor hat einen großen Hang zum – allerdings nicht immer menschenfreundlichen – Witz

VON JOCHEN SCHIMMANG

Vorweg kommt man um einen Tadel nicht herum. Der gilt allerdings nicht dem Autor, sondern dem Verlag. Ein Band, der insgesamt 93 Geschichten in sich vereinigt, die zuweilen durchaus Korrespondenzen miteinander unterhalten, braucht unbedingt ein Inhaltsverzeichnis. Und das nicht nur für den dummen Rezensenten, der noch einmal schnell etwas nachschlagen möchte, sondern viel mehr für die klugen Leser und Leserinnen, der im Nachhinein vielleicht den Beziehungen zwischen verschiedenen Geschichten nachspüren möchte. Bei dieser Textform gehört sich das einfach so, lieber Dittrich Verlag.

Kochs Geschichten sind kleine „Romane in Pillenform“, wie Giorgo Manganellis berühmte Sammlung „Centuri“, 1980 als „Irrläufe“ auf Deutsch bei Wagenbach erschienen, im Untertitel hieß. Koch streift in seinen Szenarien oft das Fantastische und das Geheimnisvolle, und das ist ein schlüpfriger Boden. Auf dem kennt sich dieser Autor allerdings aus; er betritt hier kein Neuland. Sein 1998 erschienener Roman „Das braune Mädchen“ etwa, eines seiner schönsten Bücher, bewegte sich ebenfalls auf diesem Boden, und man hätte ihm einzig zum Vorwurf machen können, dass er am Ende das Geheimnis zu sehr zu erklären versucht.

Dieser Versuchung erliegt Koch in den wundersamen Geschichten des vorliegenden Bandes nicht. Das Rätsel bleibt am Ende stehen, wie sich das gehört und wie es auch in konzentrierten Geschichten, von denen kaum eine länger ist als zwei Seiten, gar nicht anders geht.

Schöpfung aus Langeweile

Das heißt nicht, dass diese Texte hermetisch wären. Im Gegenteil überzeugen einige davon durch eine verblüffende Selbstverständlichkeit. Dazu gehört etwa die Geschichte „Schöpfung“, eine der stärksten des Bandes. Mir jedenfalls leuchtet unmittelbar ein, dass Gott – der hier nur G. heißt – ein Kind war, als er aus Dreckklumpen spielerisch und aus Langeweile ein Universum aus Kugeln schuf, von denen einige sich nach und nach belebten und mit kleinen krabbelnden Wesen füllten, die schnell immer mehr und bald zu viele waren. Und was mir persönlich am besten an dieser Geschichte gefällt, ist die Tatsache, dass es am Ende Gottes Schwestern sind, die das Ganze einfach kaputtmachen.

Dieser Abriss zeigt vielleicht schon, dass Kochs wundersame Geschichten der falschen Überhöhung jederzeit durch Witz entkommen. Dieser Autor hatte ja schon immer auch einen Hang zur – allerdings nicht unbedingt menschenfreundlichen – Komik, wie vor allem der Roman „Paare“ aus dem Jahr 2000 zeigte. Wie G. mit seinen Dreckklumpen spielt auch Koch mit seinen Figuren, die im Übrigen immer nur „ein Mann“ oder „eine Frau“ heißen, ausgenommen ebendiesen G. und dann noch einen K., dessen Geschichte mit „Neues von Franz“ betitelt ist, von ihm selbst erzählt wird und selbstverständlich am Ende in Prag landet. Aber keine Angst, das soll nicht überdeutlich heißen: Diese Geschichten sind kafkaesk. Das sind sie nämlich nicht, und das hat der Autor auch nicht nötig. Literarhistorische Bezüge gibt es natürlich öfter, zum Beispiel eine Paraphrase auf Hebels „Kannitverstan“, eine Erinnerung an Hölderlin, einen Anklang an „Rip van Winkle“.

Nun gehören jedoch nicht alle Geschichten dem Reich des Fantastischen an, und in diesem Falle muss man sagen: leider. Der Sprung in die andere Realität wird nicht immer geschafft, auch wenn der Titel des Bandes das suggeriert. Es gibt hier eine ganze Reihe von Geschichten, die einfach nur im Zeitraffer Lebensgeschichten erzählen und dabei mehrheitlich, ganz der statistischen Verteilung im richtigen Leben entsprechend, vom Scheitern und von Enttäuschungen berichten.

Wenn alles zu leichtfällt

Manchmal ist das dann kaum mehr als ein Fallbeispiel aus dem Lehrbuch, etwa die schöne junge Frau, die eine berühmte Malerin wird, der alles leichtfällt, sogar am Ende das Sterben, und die doch das ganze Leben lang auf eine schwere Aufgabe gewartet hat, oder aber das Paar hochbegabter Wissenschaftler (Germanisten), bei dem dann aber am Ende allein der Mann wirklich Karriere macht und die Frau im Hintergrund. Diese Geschichten, die eigentlich nur das alltägliche Elend schildern, gehören nicht in den Band. Hätte der Autor sie geopfert, dem Verlag wäre vielleicht auch ein Inhaltsverzeichnis leichter gefallen.

Dafür lernen wir aus den anderen, die nicht aus dem Lehrbuch stammen, umso mehr. Dank Roland E. Koch und einer der schönsten Geschichten des Buches überhaupt wissen wir jetzt, was die übrig gebliebenen olympischen Götter so treiben, nachdem ihr Einfluss verschwindend gering geworden ist. Sie sitzen in einer Lounge und langweilen sich, obwohl sie inzwischen sogar die ostasiatische Philosophie studiert haben und dadurch zu Erkenntnissen gekommen sind wie diesen: „Rot ist eine andere Farbe als Blau. Etwas Dickes unterscheidet sich von etwas Dünnem.“

Das nervt aber auf die Dauer, und schließlich bleibt ihnen als Handlungsspielraum nur noch „eine Maschine, die plötzlich über dem Atlantik abstürzte, an einem Berg zerschellte oder beim Start explodierte, nur alle zwei oder drei Jahre durfte so etwas vorkommen (…) In letzter Zeit aber machte auch das den Göttern keinen Spaß mehr. Sie diskutierten ein größeres, viel vernichtenderes Projekt, dann allerdings führte das nur zu Streit und dazu, dass jeder für sich hier oder da einen LKW-Fahrer einschlafen ließ.“ Das ist wahrhaft ein vergnüglicher Grundkurs Metaphysik. Vielleicht ließe sich mit diesem Ansatz endlich auch die sogenannte Finanzkrise verstehen.

Roland E. Koch:

„Geheime Kräfte“. Dittrich

Verlag,

Berlin 2013,

194 Seiten,

17,80 Euro