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Archiv-Artikel

Ein düsteres Familienalbum

Gefühl als Schmiermittel der Betriebsamkeit: Wolfgang Hofmann zeigt die „Geschichten aus dem Wienerwald“ am Stadttheater Bremerhaven als zeitloses Volksstück

„Du wirst meiner Liebe nicht entgehen!“, weissagt Fleischermeister Oskar mit drohendem Unterton seiner treulosen Ex-Verlobten Marianne in Ödön von Horvaths „Geschichten aus dem Wiener Wald“. Wenn er am Ende diesen Satz wiederholt und mit einem deftigen Kuss beglaubigt, sitzt die derart Geliebte endgültig in der Falle. In Horvaths „Volksstück“ von 1931 ist nicht nur die Tochter des „Puppenklinik“-Besitzers Zauberkönig verloren.

Zaubern kann hier niemand, ob Frauen oder Männer, sie kleben alle fest an einem Stoff, der aus Kleinbürgergeist, Existenzangst und sozialer Unsicherheit geformt ist. Da verkommen Klassiker-Texte zu Kalendersprüchen und die Gretchen-Tragödie wird als bitterböse Farce neu erzählt. Marianne, die sich – am Tag der Verlobung mit dem Schlachter – in den Tunichtgut Alfred verliebt, muss erfahren, dass ihr Befreiungsversuch über die romantische Liebe pure Illusion ist. Denn Alfred verlässt sie, sobald beide ein Kind haben, das sie nicht ernähren können, und Alfreds Großmutter – auf dem gesunden Land – setzt alles daran, um dem Kind das Lebenslicht auszublasen. Marianne wiederum verdingt sich als Prostituierte und landet wegen Diebstahls im Gefängnis. Aber die unfreiwillige Kindsmörderin wird nicht enthauptet, sie wird entlassen und landet in Oskars Armen.

In seiner Bremerhavener Inszenierung am Großen Haus des Stadttheaters verzichtet Wolfgang Hofmann auf jede Aktualisierung, die Figuren leben aus dem Geist der 30er Jahre und von der messerscharfen Sprache Horvaths. Die kalte Welt, die einem da entgegenspringt, erlaubt fast beiläufige Rückschlüsse auf die Gegenwart. Für diese Kälte hat Bühnenbildner Lars Peter einen ungeheuer suggestiven Raum geschaffen. Metallicfarben glänzende, wuchtige Säulen teilen die drehbare Bühne, es sind großstädtische Wohntürme, in denen sich Fenster und Türen öffnen, die kleine Läden, enge Zimmer oder Kneipen sichtbar machen. Eine Maschinenwelt, in der alle menschlichen Gefühle nur Schmiermittel der Betriebsamkeit sind.

Nicht alle Darsteller zeigen diesen Zerstörungsdruck ihrer Figuren so überzeugend wie Christine Dorner als Großmutter, deren ganze Kraft in verhärmte Bosheit und Bitterkeit umgeschlagen ist. Ihr Enkel Alfred ist ein aufgeblasener Nichtsnutz, den Markus Schneider in Ausdruck und Sprache sehr monoton anlegt. Guido Fuchs als sein Liebeskonkurrent Oskar betont überzeugend die unterwürfige Verschlagenheit und plötzliche Aggressivität des Schlachters. Marianne ist in diesem düsteren Familienalbum wahrscheinlich die einzige Figur, der Horvaths Mitleid gehört.

Während ihre geschäftstüchtige Nachbarin Valerie (sehr gut: Hella-Birgit Mascus) sich durchzuschlagen versteht, indem sie stets im richtigen Moment den Mann wechselt, ist Marianne von Anfang an in dieser Welt verloren. Die junge Schauspielerin Kathrin Diehle gibt ihr jene Mischung aus schnippischer Jugendlichkeit, Freiheitsverlangen, erotischer Kraft und Naivität, unter der schließlich die Gebrochenheit sichtbar wird. Am Ende landet Marianne im Gefängnis der Ehe und kein Gott erklärt sie aus dem Bühnenhimmel für „gerettet“. Hans Happel

Ödön von Horvath: Geschichten aus dem Wiener Wald im Stadttheater Bremerhaven. Weitere Vorstellungen: 16., 19., 22. Februar, 3. und 12. März