Cheneys Wachtelgate

Zuerst hagelte es nur Spott. Nach seinem „Jagdunfall“ vom Samstag aber gerät US-Vizepräsident Dick Cheney immer mehr unter Druck – weil er beharrlich schweigt, anstatt sich zu erklären

VON ARNO FRANK

Im Morgengrauen des 11. Juli 1804 feuerte US-Vizepräsident Aaron Burr einen Schuss auf den Verfassungsrechtler Alexander Hamilton ab und verwundete seinen Kontrahenten tödlich. Burr hatte Hamilton zum Duell gefordert, weil der seine moralische Integrität bezweifelt und seine politische Ehre in Frage gestellt hatte. Erst mehr als 200 Jahre später, am Samstag vergangener Woche, hat wieder ein Vizepräsident auf einen Menschen geschossen. Weil er ihn für eine Wachtel gehalten hat.

Mit mehr als 200 Schrotkugeln in Gesicht, Hals und Oberkörper liegt derzeit der Anwalt Alexander Whittington (78) in einem texanischen Krankenhaus – und Demokraten, Anti-Waffen-Aktivisten und Bush-Gegner im ganzen Land diskutieren über die moralische Integrität und politische Ehre des Schützen: Vizepräsident Dick Cheney (65).

Während sich die großen Medien in ihrer Berichterstattung zunächst auf eine Randnotiz beschränkten, griff der Entertainer Jon Stewart in seiner „Daily Show“ den Hardliner bereits frontal an: „Der Vizepräsident steht zu seiner Entscheidung, den Schuss abzugeben.“

Es hätten „sichere Informationen“ darüber vorgelegen, dass Wachteln sich im Busch versteckt hätten, frotzelte Stewarts Sidekick Rob Corddry in Anspielung auf den von Cheney eingefädelten Irakkrieg: „Auch wenn sich nach neuen Erkenntnissen die Wachtel als 78-jähriger Mann entpuppte, beharrt Mr Cheney auf der Richtigkeit seiner Entscheidung, Mr Whittington ins Gesicht zu schießen“, so Stewart. Hätte Cheney nicht geschossen, wäre das von Wachteln weltweit als Zeichen amerikanischer Schwäche gewertet worden.

Größer noch als die Schadenfreude liberaler Kreise über den Fauxpas des Bush-Vize sind inzwischen allerdings die Fragezeichen hinter dem „Jagdunfall“. Und die könnten Cheney, der durch diverse Affären bereits als angezählt gilt, nun ganz ernsthaft in Bedrängnis bringen.

Wie konnte Cheney auf zehn Meter Whittington mit einer Wachtel verwechseln? Warum fehlt in seinem Jagdausweis die Erlaubnis zum Abschuss von Wachteln? Warum dauerte es 18 Stunden, bis der US-Präsident über den Unfall seines Vize informiert wurde? Und welche Lobbyisten waren es eigentlich, mit denen er unterwegs war? Und warum weigert er sich so beharrlich, zu dem Vorfall Stellung zu nehmen?

„Diese Regierung hat die Tendenz zum Zurückhalten von Informationen“, konstatierte denn auch die demokratische Senatorin Hillary Clinton, die zögerliche Informationspolitik des Weißen Hauses sei ohnehin „beunruhigend“.

Tatsächlich ist es ganze vier Jahre her, dass Dick Cheney das letzte Mal persönlich vor die Presse getreten ist. Er erklärt nicht, er lässt erklären. Seit publik wurde, dass sein Opfer im Krankenhaus wegen einer wandernden Schrotkugel auch noch einen Herzinfarkt erlitten hat, gehen selbst Parteifreunde auf Distanz zu Cheney: Er müsse endlich dem Verdacht begegnen, er habe etwas zu verschweigen.

Was genau das sein könnte, dazu hat gestern der MSNBC-Journalist Lawrence O’Donnel erste Recherchen vorgelegt. Demnach sei der zuständige Sheriff von Sicherheitsbeamten bis zum Sonntag daran gehindert worden, den Vizepräsidenten zu dem Unfall vom Vortag zu vernehmen. Vom Weißen Haus hätte O’Donnel nun gerne eine einzige Frage beantwortet: „War Cheney betrunken?“