: Probleme fangen im Bauch an
Auf Berichte über verwahrloste Kinder reagieren nordrhein-westfälische Ärzte, Therapeuten und Richter mit Kritik an der schwarz-gelben Landesregierung: „Familienpolitik kürzt kopflos“
AUS DÜSSELDORFNATALIE WIESMANN
Wenn ein fünfjähriges Kind keinen Drei-Wort-Satz formulieren kann, müssten bei seinen Eltern die Alarmglocken klingeln – diese wenden sich aber in den seltensten Fällen an vorhandene Anlaufstellen. „Familien in Not brauchen dringend stärkere Unterstützung“, appellierten gestern nordrhein-westfälische Kinder- und Jugendärzte, Psychotherapeuten und der Richterbund NRW an die Adresse von Landesfamilienminister Armin Laschet (CDU).
Wenn mehr Geld für Früherkennung investiert werde, könne Kindesvernachlässigung und -misshandlung entgegnet werden, sagte Thomas Fischbach, Landesvorsitzender des nordrhein-westfälischen Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) gestern in Düsseldorf. „Das kann uns aber nicht gelingen, wenn die Landesregierung bei der Jugendhilfe und der Erziehungsberatung Mittel einspart.“
Jedes vierte Kind gilt inzwischen als entwicklungsgestört. Klinisch bedeutsame Auffälligkeiten von Depressionen bis zu Aggressionen mehrten sich, so Fischer. Aufgerüttelt durch Medienberichte über tragische Schicksale einzelner Kinder, würde die Frühprävention endlich Thema der Politik, sagt auch Wilfried Kratsch, leitender Oberarzt des Kinderneurologischen Zentrums an den Städtischen Kliniken Düsseldorf-Gerresheim. Er forscht schon seit fast 30 Jahren zu der Notwendigkeit einer frühen Erkennung von Risikofamilien. „Die Probleme werden von Generation zu Generation getragen, wir müssen den Teufelskreis durchbrechen.“ Früherkennung von möglichen Risiken finge bereits vor der Geburt eines Kindes im Bauch der Mutter an.
Über den Sinn einer frühkindlichen Pflichtuntersuchung, die im Moment öffentlich diskutiert wird, sind sich die ExpertInnen nicht einig: Der BVKJ-Präventionsbeauftragte, Josef Kahl, befürwortet einen Zwang zur Untersuchung. Die zehn Prozent der Kinder, die dort nicht hingingen, seien oft aus problematischen Familien: „Wichtiger als der Wille der Eltern ist das Recht auf Gesundheit des Kindes“, sagt er. Monika Konitzer, Präsidentin der Psychotherapeutenkammer NRW sieht keinen Sinn in einer solchen Verpflichtung. „Eine bessere Erziehung lässt sich nicht erzwingen“. Beratung sei nur dann erfolgreich, wenn Eltern sie auch wollten. Die freiwilligen Vorsorgeuntersuchungen, die sich bisher auf die körperliche Gesundheit beschränken, müssten auch die emotionale und kognitive Entwicklung des Kindes erfassen.
Kritisch steht Kognitzer den von Laschet geplanten Familienzentren gegenüber, die Kindertagesstätten um Beratungsangebote erweitern sollen. „Bestehende Beratung wird zusammengestrichen, stattdessen muss neues Personal erst geschult werden.“ Doch Laschet weiß, warum er das tut: Denn die zukünftigen Berater sind Pädagogen und billiger als Psychologen und Therapeuten in den vorhandenen Erziehungsberatungsstellen.