: Der geistliche Reichtum der Provinz
Das kleinstädtische Leben in Sergijew Possad, eine gute Zugstunde von Moskau entfernt, schätzen nicht nur viele Pendler. Auch Touristen kommen gern, um das berühmte Sergij-Dreifaltigkeitskloster zu besichtigen. Schon Peter der Große suchte hier spirituellen Halt. Heute leben Souvenirverkäufer davon
von MANDY GANSKE
Valentin Semonov schwärmt von seinem Heimatstädtchen. „Hier in Sergijew Possad gibt es günstige Wohnungen, die Preise sind niedrig, und Arbeit finden viele in Moskau“, so der Souvenirverkäufer. Tatsächlich ist Sergijew Possad ein wundervolles Ausflugsziel, zumal dort eines der wichtigsten religiösen Zentren Russlands liegt – das Sergij-Dreifaltigkeitskloster.
Die Marschrutka, das typisch russische Kleinbustaxi, schlängelt sich die Hauptstraße Richtung Zentrum hinauf. Die weißen Klostermauern erregen sofort Aufmerksamkeit. Der Hals wird gereckt, fast kommt Unruhe auf in der flüchtigen Sorge, der Busfahrer habe die Absprache vor der Abfahrt falsch verstanden. „Ostanavitjes pozhalusta sdjes – Halten Sie bitte hier“, soll ihm der Fahrgast für gewöhnlich an der gewünschten Ecke zurufen.
Schwierig wird dieses Prinzip immer dann, wenn der Ort bisher nur aus Reisebeschreibungen bekannt ist. Doch glücklicherweise hält der Fahrer auch ohne Zuruf an, wenn auch erst ein paar Meter hinter dem Haupteingang zur Sergij-Dreifaltigkeitslawra. (Eine Lawra ist ein besonders wichtiges Männerkloster, zu dem selbst die Zaren zu Fuß pilgerten.) Gegenüber der Haltestelle ist ein kleiner Tümpel. Schwäne tauchen geschmeidig ihre Köpfe ein auf der Suche nach Essbarem. Geht es am Tümpel vorbei, fällt der Blick vor der Klosteranlage auf eine Statue. In Bronze gegossen steht hier zwischen den Bäumen der Mönch Sergij von Radonesch, für die Russen einer der wichtigsten geistigen Führer aus früherer Zeit.
In der orthodoxen Kirche wird Sergij von Radonesch seit Jahrhunderten als Heiliger verehrt. Er gründete hier 1345 eine Mönchsiedlung. Es brauchte einige Jahrhunderte, bis daraus ein Kloster der heutigen Größe herangewachsen war. Der barocke Glockenturm aus der Mitte des 18. Jahrhunderts ist in Meerblau getaucht und mit 80 Metern Höhe der erste Blickfang. Links und rechts stehen die größten Gotteshäuser der Klosteranlage: die Mariä-Entschlafen-Kathedrale mit ihren Zwiebeltürmen in Blau und mit Sternen verziert sowie die Dreifaltigkeitskathedrale, der geistige und historische Mittelpunkt des Klosters. Peter der Große fand hier zweimal Zuflucht, unter anderem während des Strelitzen-Aufstandes Ende des 17. Jahrhunderts, als der Zar vor der revoltierenden Palastgarde Schutz suchte.
Während die Russen meist zur Andacht hineingehen, wollen Touristen vielmehr das reich verzierte Interieur aus dem 15. Jahrhundert sehen, das dem großen russischen Künstler Andrei Rjublow zu verdanken ist. Weil Mongolen 1408 das Kloster in Brand gesteckt hatten, mussten die verkohlten Überreste der Kirche aus den Zeiten des Klostergründers der heutigen Dreifaltigkeitskathedrale weichen. Und Rjublow ließ die Ikonostase zu ungekanntem Glanz erstrahlen. Es war Iwan der Schreckliche, der dann im 16. Jahrhundert einen silbernen Schrein anfertigen ließ. In der Kathedrale wird dieser bis heute mit den Reliquien des heiligen Sergij von Radonesch aufbewahrt.
Nicht weit entfernt von der bronzenen Radonesch-Statue sitzt Valentin Semonov. Hier im Gewusel von Touristen hat er seinen angestammten Platz. Er verkauft Matroschkas, Schlüsselanhänger und allerlei Krimskrams – perfekt für den Setzkasten im heimischen Wohnzimmer. Die Info-Hefte für Sergijew Possad preisen an ebendieser Stelle einen Kunstmarkt an. Doch statt Erzeugnissen von hiesigen Handwerksmeistern haben Semonov und seine Kollegen hier bloß die üblichen Souvenirs im Angebot.
Dabei ist die Handwerkskunst noch heute ein Aushängeschild von Sergijew Possad. Denn das Städtchen war nicht nur ein religiöses Zentrum, sondern auch ein Anziehungspunkt für Künstler aller Art. In den Vorstädten arbeiteten Töpfer, Silberschmiede und andere Meister. Kunstwerke aus ihrer Hand finden sich heute im Geschichts- und Kunstmuseum am Rote-Armee-Prospekt, gleich gegenüber der Lawra.
Aber auch ohne besondere Handwerkskunst im Angebot macht Semonov seinen Umsatz. Sein Vorteil: Er kann ein Schwätzchen halten mit russischen wie mit deutschen Touristen. „Mit deutschen Touristen verstehe ich mich immer gut“, sagt er. Für die Stadtgäste hat der 58-jährige Russe seine Standardsätze: „Sind Sie das erste Mal hier? Wo waren Sie schon überall?“ Er ist sehr freundlich, hält seinen deutschen Schulwortschatz wohl aber auch aus Geschäftsfindigkeit frisch. Gerade sind Freunde von ihm nach Hannover gezogen. Sicher ist das ein weiterer Grund. Ihnen mit Frau und Tochter einen Besuch abzustatten, scheiterte bisher aber an der russischen Bürokratie, sagt er.
Einen neuen Beruf zu ergreifen, war für Semonov zu Beginn der Neunzigerjahre dagegen gar kein Problem. Alles ging damals völlig unbürokratisch. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wechselte er die Monteurskluft mit einem windfesten Anorak und wurde Souvenirverkäufer. Gelernt hatte er Heizungstechniker.
Er scheint zufrieden zu sein mit dem Leben, wie es heute ist: „Wo früher Wartelisten für die Wohnungsvergabe existierten, können die Leute nun einfach ihre eigenen vier Wände kaufen“, sagt Semonov. Zur Arbeit können sie außerdem nach Moskau fahren, wo deutlich höhere Löhne gezahlt würden.
Tatsächlich sind es knapp eine Dreiviertelmillion Menschen, die täglich aus dem Umland nach Moskau zur Arbeit fahren, gut ein Zehntel der arbeitsfähigen Bevölkerung in der Region. Auch für viele der hunderttausend Einwohner von Sergijew Possad ist dies die Gelegenheit, mit dem jeweils gezahlten Lohn mehr, als immer nur ausstehende Rechnungen zu begleichen. Immerhin liegen die Hauptstadtgehälter gemäß der Tageszeitung Iswestija durchschnittlich vierzig Prozent über den kargen Löhnen im Umland. Damit lässt sich leben.
Trotzdem: Auch im Moskauer Umland steigen die Preise. Zwar können sie mit der Hauptstadt als drittteuerster Stadt der Welt (noch) nicht mithalten. Insbesondere Lebensmittel verteuern sich kaum. Gerade aber in dem von Valentin Semonov gepriesenen Wohnungsmarkt ziehen die Preise kräftig an. Nach Angaben der Immobilienfirma Miel müssen Käufer für den Quadratmeter heute zwischen 600 bis 800 Dollar berappen – nach einer Preissteigerung um gut zehn Prozent in den vergangenen Monaten. In Moskau sind es bis zu 20.000 Dollar.
Das Leben in Sergijew Possad ist nicht nur günstiger als in der russischen Hauptstadt, sondern auch ruhiger, grüner und ohne versmogte Stadtluft. Vielleicht liegt darin ein Grund, dass gerade Valentin Semonov nicht zu den Pendlern gehört, sondern sein Glück mit den Touristen macht, mit den Leuten, die zu ihm kommen. Insofern scheint die Sergij-Dreifaltigkeitslawra nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine Zuflucht für ihn geworden zu sein, wie sie es einst für Peter den Großen war.
www.zagorsk.ru (in russ. Sprache), Züge fahren stündlich in Moskau vom Jaroslawer Bahnhof ab