die taz vor zwölf jahren über die kultur der politischen rücktritte
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Erst der Rücktritt zeigt den wahren Charakter des Politikers. Bei der Inszenierung des politischen Rücktritts können wir jetzt die Gauweilersche Skala (abgekürzt: G-Skala) anwenden. Und die geht so: Stufe 1: Bundesbildungsminister Ortleb, ein Mann, den ohnehin niemand kannte, erklärt sein Ausscheiden aus dem Kabinett. Langeweile pur! Eine schriftliche Erklärung verweist auf die angegriffene Gesundheit. Unendliche Öde!

Stufe 2, schon gekonnter: Wirtschaftsminister Möllemann stolpert über einen Vetter und dessen Chips für Einkaufswagen. Gute Geschichte: Familiäre Verquickungen interessieren auch jeden, der von Wirtschaft keine Ahnung hat (wie Möllemann selbst), Einkaufswagen kennen alle. Der Rücktritt selbst wird, gekonnt inszeniert, bis zur letzten Sekunde geheimgehalten, um dann medienwirksam auf einer großen Pressekonferenz bekanntgegeben zu werden. Ein hoher Unterhaltungswert ist garantiert. Glückwunsch!

Stufe 3 aber ist unübertroffen, und für sie kommt natürlich nur Peter Gauweiler selbst als Pate der gleichnamigen G-Skala in Frage. Skandalbenotung: 1 a. Wenn ein Saubermann-Minister einem stadtbekannten Ganoventreff unter die Arme greift, versteht das jeder und begreift das keiner. Inszenierung: 1 a. Tagelange Gerüchte, Geheimgespräche mit der Parteispitze. Und dann, der Höhepunkt, Gauweiler unter seinen Getreuen im Münchner Bierkeller: Tritte gegen die Presse, Anfeindungen gegen die eigene Partei, Kabarett erster Güte – und dann erst, verschämt und kaum zu bemerken: der Rücktritt. Tusch!

Je besser die Rücktrittsinszenierung, desto größer die Rückkehrchancen. Von Ortleb redet schon zwei Wochen nach seinem Abschied kein Mensch mehr. Und Gauweiler? Der ist zwar zurückgetreten, aber eigentlich auch wieder nicht. Als Münchner CSU-Chef wird er das Publikum weiter trefflich unterhalten. Da bleibt uns nur die eine, neiderfüllte Empfehlung: Weiter so! Klaus Hillenbrand, 18. 2. 1996