: Kölsch und Bella Bimba
VON HEIKE HAARHOFF
Das Foto von der Vase war nur ein Detail. Harmlos. Absurd. Verglichen damit, was der KGB sonst noch konnte.
Er hatte in einem Kinofoyer in Moskau etwas zu trinken bestellt. Da entdeckte er die Vase auf dem Tisch. Sie gefiel ihm. Er hatte seinen Fotoapparat dabei. Er drückte auf den Auslöser. Die keifende Bedienung („Wollen Sie sich beschweren? Neeeiiin? Warum fotografieren Sie dann?“) nervte ihn. Die drei Männer in langen Mänteln, die ihn nach der Vorstellung abfingen und stundenlang wegen vermeintlicher Spionage in die Mangel nahmen, machten ihm Angst. So sehr, dass Babrak Wassa damals einen weit reichenden Beschluss fasste: „Ich schwor mir, nie wieder so zu leben: überwacht, beschattet, unfrei.“
Bald 40 Jahre ist das her, ein halbes Menschenleben. Babrak Wassa war damals Anfang 20 und Stipendiat an dem renommierten Moskauer Konservatorium „Tschaikowsky“. Sein Heimatland Afghanistan hatte den talentierten Komponisten und Schauspieler, Sohn einer wohlhabenden Familie mit besten Kontakten zum Königshaus, 1966 zum zwölfjährigen Studium der klassischen und Chormusik in die UdSSR entsandt. Nach seiner Rückkehr ernannte die Regierung in Kabul den mehrfach Ausgezeichneten und Diplomierten 1978 zum Generalmusikdirektor des Staatlichen Rundfunks und Fernsehens. Es war der höchste Staatsposten, der einem Musiker zuteil werden konnte.
Heute ist Babrak Wassa 58 Jahre alt. Er steht an einem Keyboard für Alleinunterhalter in dem fensterlosen Probenraum eines Bürgerzentrums in Refrath bei Köln. Grüne und weiße Girlanden schmücken die Decke. Es sind die Vereinsfarben des Männergesangvereins „Liederkranz 1864“. Das Rheinland steckt im Karneval. Babrak Wassa steckt in einem schwarzen Seidenhemd, einer schwarzen Stoffhose und eleganten schwarzen Schuhen. Die 50 Sänger des Liederkranzes, gut gelaunte Herren im Rentenalter, gruppieren sich, nach Stimmlagen geordnet, im Halbkreis um ihren Chorleiter Babrak Wassa herum und singen sich warm: „Die flinken Füße, die flinken Hände, die satten Hüften, das ist Ma-riii-naaaa …“
Die Männer strahlen Babrak Wassa an. Wenn es ihnen gelingt, den vorgegebenen Ton zu treffen und den Takt zu halten, lächelt er stets höflich zurück. „Er bringt Steine zum Singen“, schwärmt ein Sänger hinterher. „Wie der hier ankam vor über 20 Jahren und dirigieren wollte“, erinnert sich ein anderer, „da war der eine oder andere vielleicht schon skeptisch: Im Orient ist ja ein ganz anderer Musikstil wie hier.“ Doch solche Bedenken haben nicht einmal die erste Chorprobe überdauert: „Dat is so ein angenehmer Typ, der Herr Wassa, der hat sich prima in dat hiesige Liedgut eingearbeitet, und mittlerweile trinkt der sogar Kölsch!“
Es gibt kompliziertere Orte als das rheinische Exil.
Es war ein langer Weg hierher. Ein Weg, der im Frühjahr 1980 mit seiner Flucht aus Afghanistan nach Deutschland begann und an dessen Ende jetzt so etwas wie späte Anerkennung, Belohnung und auch Genugtuung stehen. So jedenfalls empfindet es Babrak Wassa.
Afghanistan hat sich nach 26-jährigem Schweigen und Ignorieren seiner Person seiner erinnert – und den Musiker Babrak Wassa Ende Januar um die Komposition der neuen Nationalhymne gebeten. Der Auftrag kommt einer Rehabilitation gleich. Noch vor wenigen Jahren wäre Babrak Wassa, hätte er es gewagt, einen Fuß auf afghanische Erde zu setzen, schnurstracks wegen Landesverrats in einen Kerker gewandert. Wassa schwankt zwischen Ungläubigkeit und hysterischem Gelächter, wenn er beschreiben soll, was er fühlt angesichts dieses Wandels, und dann sagt er nur: „Afghanistan.“
Afghanistan, das Land, das ihm erst eine Bilderbuchkarriere versprach. Und ihm dann, nach dem Einmarsch der Sowjets zu Weihnachten 1979, die Arbeit beim Sender mit politisch motivierten Auflagen, Kontrollen und Verboten zur Hölle machte. Plötzlich, sagt er, durften nur noch ideologische Lieder gespielt werden, „es war zum Verzweifeln“, dumpfe, langweilige Melodien, bar jeder Kreativität. „Ich bin überhaupt kein politischer Mensch“, sagt Babrak Wassa über sich, „ich bin Künstler und wollte meine Ruhe haben, aber mich vor keinen Karren spannen lassen.“
Er hatte so lange im Moskau der Breschnew-Ära gelebt. Er ahnte, wohin Afghanistan unter sowjetischer Kuratel driften würde. Und er war sich sicher: Politische Neutralität würde auf die Dauer nicht geduldet werden in seiner Position. Da fiel ihm das Foto von der Vase ein und sein damaliger Schwur.
Er verabschiedete sich weder von seiner sechsjährigen Tochter noch von seiner Frau. „Sie war Russin, wir hatten uns in Moskau kennengelernt, und ich dachte, sie träumt wie ich von der Freiheit, aber den Einmarsch fand sie dann plötzlich richtig“, sagt er knapp. Und: „Sie hätte mich an den KGB verraten, hätte ich sie eingeweiht.“
In Rösrath, der Nachbargemeinde von Refrath, lebte bereits sein älterer Bruder. Babrak Wassa floh. In ein unwürdiges Asylverfahren, das seine Flucht zunächst nicht als politische Verfolgung anerkannte. In die berufliche Bedeutungslosigkeit. „In jedem deutschen Haushalt steht ein Klavier, sieh lieber zu, dass du dich mit einem Job an der Tankstelle über Wasser hältst“, riet ihm sein Bruder zur Begrüßung.
Kreischorleiter des rheinisch-bergischen Sängerkreises ist er geworden dank eines Freundes mit Kontakten zur Ausländerbehörde, einer, der an vier Abenden pro Woche den Taktstock zu Bella Bimba und dem Chianti-Lied schwingt und dafür dankbar ist. Denn seine acht Laienchöre lieben und bezahlen ihn. Sie haben nie so gut gesungen wie unter seiner Leitung. Er ist der erste Profi, der sich je für ihr Können interessiert hat. Sein Ehrgeiz hat sie angesteckt. Seitdem gehen sie regelmäßig mit ihm auf Konzertreisen. Voriges Jahr hatten sie einen Auftritt in der Kölner Philharmonie. Sie tun auch viel, damit er bei ihnen bleibt. Als ihm die Mietwohnung zu klein wurde, haben sie ihm selbstverständlich geholfen, ein günstiges Baugrundstück zu finden. „Es sind keine Fremden, mit denen ich arbeite“, sagt Babrak Wassa. Er weiß, er hat ein vergleichbar großes Los gezogen unter den möglichen Flüchtlingskarrieren in Deutschland.
Er hat wieder geheiratet, eine 18 Jahre jüngere Exilafghanin, die die Haare offen, den Rock knielang und ihre Bildungsbürgerherkunft wie ein Ausrufezeichen vor sich her trägt. Er hat zwei Kinder mit ihr. Er hat ein Einfamilienhaus gebaut, hinter seinem Garten beginnt der Königsforst, 1996 ist er deutscher Staatsbürger geworden. „Meine Träume waren andere“, sagt Babrak Wassa. „Ich wollte die Freiheit in meiner Heimat.“
Aber jetzt! Jetzt hat der Staatspräsident Hamid Karsai höchstselbst ihn mit der Nationalhymne für die Islamische Republik Afghanistan beauftragt. Von der alten Hymne, die unter der sowjetischen Besatzung gespielt wurde, hatte sich Karsais neue demokratisch gewählte Regierung distanzieren wollen. Unter den zuletzt herrschenden Taliban war sowieso jede Musik verboten gewesen. Ein neues Stück musste her.
Daraufhin wurde im vergangenen Herbst ein Wettbewerb unter verschiedenen afghanischen Exilmusikern ausgerufen. Den Text, der Afghanistan als „Herz von Asien“ beschreibt und als Heimat verschiedener Stämme und Völker, vereint im Islam, gab es schon. Jetzt fehlte noch die Vertonung. Wassas Komposition, eine feierliche Mischung aus klassischen und orientalischen Klängen, die im Siebenachteltakt nach einem majestätischen Tanz und in ihrer Zweivierteltakt-Version nach einem fröhlichen Militärmarsch klingt, ging als Sieger hervor.
Es sei nicht ganz einfach gewesen, räumt Babrak Wassa ein, den Geschmack der Menschen eines Landes zu treffen, in dem er selbst seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr gewesen sei und das eine ungeheuerliche Geschichte hinter sich habe. „Eine ganze Generation hat nur Krieg erlebt, Raketen, Bomben, Zerstörung, Vergewaltigung und Raub“, sagt er. Woher sollte diese Generation also ein Verständnis für Kunst haben, geschweige denn Gefallen finden an seiner Komposition? Er schickte seine Aufnahme trotzdem ab. „Denn natürlich“, sagt Babrak Wassa, „ist mein Name noch immer ein Begriff in Kabul.“ Er könnte auch sagen: An mir führt über kurz oder lang kein Weg vorbei.
Dieser Eindruck entsteht nicht bloß im Gespräch mit ihm. In seinem lichtdurchfluteten Arbeitszimmer zu Hause in Rösrath guckt einen das Bedürfnis nach Anerkennung und Geltung von jeder Wand an. Es sind Fotos von Babrak Wassa und seiner Familie, mal in angeregter Unterhaltung mit ehemaligen afghanischen Ministern oder Königsberatern, mal beim Handschlag mit Richard von Weizsäcker oder Heiner Geißler im Anschluss an Chorauftritte. Auf den Fotos wirken die zufälligen Begegnungen, als habe sämtliche Prominenz bloß auf Babrak Wassa gewartet, wo immer der sich gerade aufhielt. Oder er auf sie.
Der afghanische Präsident Hamid Karsai, vor Kabuler Himalaja-Kulisse ins Gespräch vertieft mit dem Komponisten der neuen Nationalhymne, würde sich gut machen in dieser Fotogalerie. Aber Babrak Wassa ist unsicher, ob er schon bald eine Reise nach Afghanistan wagen soll. Da ist einerseits die prekäre Sicherheitslage. Dann die Angst, der Zerstörung ins Auge zu blicken und so die eigene, alte, schöne Erinnerung an Kabul zu verlieren. Und schließlich: ist Babrak Wassa nicht irgendwer. Das können sich der neue afghanische Präsident und alle, die ihn sonst noch einladen wollen, gleich mal schön merken. „Ich habe denen in Kabul schon mitgeteilt, dass ich die Wassa-Chöre hier nicht so einfach im Stich lassen kann“, sagt Babrak Wassa gewichtig. Und dann lacht er laut los.