: N wie Notausgang
ANALPHABETISMUS Svetlana Köhn ist 41 Jahre alt und lernt gerade lesen und schreiben. Eine Begegnung
VON JULIA JAROSCHEWSKI
Immer wenn die Mutter schwanger wurde, schob sie der Vater ab. In die Heimat, zur Familie. Der Vater meinte, Frauen gehörten hinter den Herd und erzögen die Kinder. „Ich habe das nie hinterfragt.“ Svetlana Köhn sagt das einfach so. Ihre Hände ruhen auf dem Bauch. Die Sonne scheint durch das Fenster im Kreuzberger Hinterhof. Svetlana Köhn ist nicht wütend, sie rechtfertigt sich nicht. „Es war halt so.“
Ihre Familie stammt aus dem ehemaligen Jugoslawien. Das Verhältnis zum Vater sei sehr gut gewesen, obwohl er ihr und den Schwestern die Schule verbot. „Mädchen gehen nicht zur Schule“, sagte er. Und dass der Mann als Familienoberhaupt bestimme. Svetlana wuchs mit einer Mutter auf, die solche Aussagen akzeptierte, die auch akzeptierte, dass ihre Töchter nie lesen und schreiben lernten. Auch nicht als sie in Westberlin lebten.
Svetlana Köhn kann heute ihren Namen schreiben. Mit 41 Jahren nimmt sie an einem Alphabetisierungskurs teil. „Ich lerne zum ersten Mal in meinem Leben.“
Obwohl die Vereinten Nationen mit einer bis 2012 laufenden Alphabetisierungsdekade für das Problem sensibilisieren wollen, werden die meisten der 164.000 Analphabeten in Berlin kaum wahrgenommen. Analphabeten sind scheinbar integriert. Sie fallen nicht auf, obwohl sie ganz anders leben: Eine Fahrt mit der U-Bahn gleicht einem visuellen Abspeichern – Analphabeten lesen nicht, sie sehen. „Der Orientierungssinn der Analphabeten ist meist gut ausgeprägt“, sagt Doris Habermann, Projektkoordinatorin eines Kreuzberger Alphabetisierungsprojektes. Trotzdem haben sie große Hemmungen, sie schämen sich für ihre Schwächen und entwickeln Strategien, mit denen sie unbemerkt die Hürden des verschriftlichten Alltags bewältigen. Manchmal agieren sie so erfolgreich, dass sie Arbeit finden, ohne dass Vorgesetzte von diesen Schwächen erfahren. Wenn überhaupt, finden Analphabeten aber Knochenjobs. „Auf dem Bau arbeiten, Kisten packen oder reinigen“, so Habermann. „In diesen Branchen läuft vieles über mündliche Verträge, es gibt keine formalen Abmachungen.“ Svetlana Köhn kam irgendwie durch. Sie durchlief 20 bis 30 Arbeitsstationen, immer in der Reinigungsbranche.
Eine Verletzung im Knie und die damit einhergehende Bewegungseinschränkung führte zur Arbeitslosigkeit und ins Jobcenter. Die Mitarbeiter eröffneten ihr zwei Optionen: Sozialfall werden oder lesen lernen. Sie entschied sich für Letzteres.
Doris Habermann weiß, dass diese Menschen Hemmungen haben. Die Teilnehmer der Kurse melden sich selten von allein. Meist ergreifen Freunde die Initiative, oder das Jobcenter vermittelt. Langfristige Jobs ergeben sich für Analphabeten kaum. „In einer Gesellschaft, die stetig höher Qualifizierte nachfragen wird, sind Analphabeten das unterste Glied in der Kette.“
Svetlana Köhn macht Fortschritte. Neben der Aneignung von Lese- und Schreibkompetenzen ist es für sie eine wichtige Erfahrung zur Stärkung des Selbstwertgefühls. Die EU hat gemeinsame Kriterien zur Kategorisierung von Sprachkompetenzen geschaffen. Sie gehen von A1 bis C2, die untersten Stufen A1 und A2 zählen als elementare Sprachverwendung. Doris Habermann hat für die Kursteilnehmer eine neue Kategorie erfunden: A0. Auch Svetlana ist in einem solchen Kurs.