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Archiv-Artikel

Rechnen ohne Kohldampf

AUS RATINGEN NATALIE WIESMANN

Die SchülerInnen der Klasse 5 a stehen zappelnd in zwei Reihen vor ihrer Lehrerin Inga Freise. „Frisches Fleisch ist?“ fragt die junge Pädagogin die Ersten in der Schlange mit eindringlichem Blick. „Frischfleeeisch“, kreischt der 11-jährige Kevin sofort. Seine Reihe darf eins weiter rücken. Simge, die die andere Gruppe anführt, ist wieder zu kurz gekommen, die anderen sind immer einen Tick schneller. „Was ist eine kneifende Zange?“ fragt die Lehrerin jetzt. Eine... eine... eine... „Kneifzange“, schreit Simge heraus. Endlich. Nach mehreren Runden ist die türkischstämmige Schülerin von der Ungeduld in ihrer Gruppe befreit und darf sich wieder hinten anstellen.

Spielerischer Deutschunterricht, das gehört an der Elsa-Brandström-Hauptschule in Ratingen zum Ganztagsprogramm. Dafür sind vier Stunden zusätzliche Sprachförderung in der Woche vorgesehen. Und den benötigen in der 5a nicht nur Migrantenkinder. Die Mehrheit der SchülerInnen hier hat deutsche Eltern. Die Klassenlehrerin, eine trendige 30-Jährige mit sanfter Stimme, ist froh über die zusätzlichen Stunden. „Man braucht einfach mehr Zeit, um bei den Einzelnen die Schwächen herauszuhören“, sagt Inga Freise. An einer Schule ohne Nachmittagsunterricht ließe der Lehrplan das oft nicht zu.

Ein indirektes Lob an die NRW-Schulministerin Barbara Sommer (CDU). Sie hatte im Herbst an Grund- und Hauptschulen eine „Qualitätsoffensive“ angekündigt – zu groß war die Kritik an der von Rot-Grün eingeführten Offenen Ganztagsgrundschule: Sie wurde wegen des reinen Freizeitangebots am Nachmittag von Bildungsexperten „Halbtags mit Suppenküche“ geschimpft. In Sommers Modell sollen die Kinder dagegen auch nach dem Mittagessen noch Stoff pauken.

Als eine von zehn Einrichtungen im Land ist die Elsa-Brandström-Schule im Februar offiziell in den Ganztag gestartet. Bis 2012 sollen in Hauptschulen weitere 50.000 Ganztagsplätze entstehen. Die Ratinger Einrichtung ist Pilotschule geworden, weil sie bereits am Anfang des Schuljahres, im August, ihr Angebot auf den Nachmittag ausweiten konnte. „Wir hatten einen Lehrerüberschuss“, erklärt Rektorin Gerlinde Unger.

Im erneuerten Ganztagskonzept wechseln sich Lern- mit Entspannungszeiten ab, und das von morgens acht bis 16 Uhr nachmittags. Für die Erweiterung der Schulzeiten erhalten die Einrichtungen vom Land einen Personalzuschlag von 30 Prozent. Nur ein Drittel des Geldes darf für nichtpädagogische Betreuer ausgegeben werden, der Rest muss in Lehrerstellen gehen. Der Nachmittagsunterricht ist für alle SchülerInnen verpflichtend.

Das Mehr an Personal geht an der Elsa-Brandström-Schule auch in die Hausaufgabenbetreuung. Hier ist die Klasse in zwei 10er-Gruppen aufgeteilt, zwei LehrerInnen pro Gruppe stehen den SchülerInnen zur Seite. Aleksander, der seine schwarzen Haare zum Kamm gegelt hat, muss für Erdkunde ein Fachwerkhaus zu Ende malen. Nach ein paar Minuten legt er seinen Kopf auf den rechten Arm und gähnt. „Ich hab keine Lust mehr“, stöhnt er. Mit den gleichaltrigen Kindern, die jetzt schon frei haben, will er dennoch nicht tauschen. „Zu Hause müsste ich jetzt auch Hausaufgaben machen, da werde ich immer abgelenkt“, sagt er. Er ist gerne hier, „weil das die beste Schule ist“, das habe er zumindest gehört.

Sie ist zumindest die beste Art von Hauptschule, die ihm und seinen KlassenkameradInnen passieren konnte. Ihre Ganztagsschule ist für Rektorin Unger nicht nur ein pädagogisches Projekt im Sinne der Schulministerin, sondern vor allem ein soziales Projekt. Denn nur drei Prozent der Ratinger schicken ihren Nachwuchs auf die Hauptschule. „Da kann man sich vorstellen, welche Probleme sich hier bündeln“, sagt Gerlinde Unger. Viele Kinder lebten unter der Armutsgrenze, wohnten mit mehreren Familienmitgliedern in einem Zimmer. Verlässlichkeit würden viele zu Hause nicht kennen lernen. „Die Kinder kommen oft hungrig zur Schule, ohne Pausenbrot“, sagt die 59-Jährige. Nur die Schule könne ihnen Verlässlichkeit anbieten. Dazu gehöre auch das tägliche warme Essen.

Die Eltern hätten keine Energie für ihre Kinder, sie kreisten nur um ihre eigenen Probleme, so Unger. Oft würden diese sogar erwarten, dass die Kinder ihre Probleme lösen. „Aber die Kinder sind nicht dazu da, auf ihre kleineren Geschwister aufzupassen“, findet die Rektorin. Jedes Kind hier zeige sich in irgendeiner Weise verhaltensauffällig und habe Lernschwächen, berichtet Unger. Bücher wären in diesen Haushalten eine Seltenheit, den Kindern würde nie vorgelesen.

Die mangelnde Ausdrucksfähigkeit zeigt sich vor allem bei den männlichen Schülern auch beim abschließenden Teekesselchen-Spiel. Dabei muss sich eine kleine Gruppe ein Wort mit mehreren Bedeutungen suchen und ihren KlassenkameradInnen umschreiben. „Mein Teekesselchen hat verschiedene Farben“, sagt Kevin. „Da sind Menschen gestorben“, sagt Norman. Dann ist Stille, Patrick kommt nicht weiter. Kevin flüstert ihm etwas ins Ohr. „Bei meinem Teekesselchen braucht man einen Schläger“, sagt dieser dann. Und Aleksander fügt hinzu: „Mein Teekesselchen ist warm.“ Den Klassenkameraden steht die Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben, sie wissen nicht, auf welches Wort die vier Beschreiber hinauswollen. Diese haben sich aber auch keinen einfachen Begriff ausgesucht: Golf-Auto, Golf-Krieg, Golf-Sport, Golf-Strom.