Rendezvous mit Allan

FILMFESTIVAL Allan Dwan war einer der produktivsten Pioniere des amerikanischen Kinos seit Stummfilmzeiten – und ein Meister des B-Movies. Das Festival Il Cinema Ritrovato in Bologna zeigte einen schönen Querschnitt durch seine Filmografie, die 400 Titel umfasst

Dass die besten amerikanischen Filme schon in den Dreißigern eher am Rande der Industrie entstanden, zeigt „While Paris Sleeps“

VON LUKAS FOERSTER

Er will nur zu seinem Schokoladenkuchen, sagt Jeffrey Dolan, ein eher tumber, aber grundsympathischer amerikanischer Soldat. Den Schokoladenkuchen, seine Leibspeise, das erklärt er jedem, der nicht bei drei auf den Bäumen ist, bereitet ihm seine Frau Annie zu und nur für diese Köstlichkeit wird er während eines kurzen Heimaturlaubs zum Deserteur.

Selbstverständlich ist der Schokoladenkuchen ein Stand-in für Sex, was spätestens dann offensichtlich wird, wenn er neun Monate nach dem Heimatbesuch gegen ein Baby ausgetauscht wird. Der Schokoladenkuchen ist gerade in seiner Penetranz ein geniales Film-Ding: Zunächst dringt er als leicht durchschaubare Metapher (und gleichzeitig als Ablenkungsmanöver für die Zensur) in den Film ein, doch schnell emanzipiert er sich von dieser Funktion, materialisiert sich irgendwann auch tatsächlich als massives, zuckersüßes Etwas. Und nicht zuletzt aus den Versuchen, dieses massive, zuckersüße Ding zu verdauen, entsteht: „Rendezvous with Annie“, eine amerikanische Komödie aus dem Jahr 1946.

Eine leichtfüßige Gesellschaftskomödie, genauer gesagt, die lustvoll vom Regelbruch erzählt – und die die falschen, weil dem Sozialen äußerlichen Regeln durch ihr eigenes, weitaus flexibleres Regelwerk ersetzt, das auf einer Serie von Verschiebungen basiert. Für solche Filme muss man das von der Cineteca di Bologna veranstaltete Festival Il Cinema Ritrovato lieben.

Das in den letzten Jahren von einer filmhistorischen Spezialisten-Veranstaltung zu einem regelrechten Festivalevent herangewachsene Ritrovato ist inzwischen alles Mögliche, unter anderem eine Leistungsschau europäischer und amerikanischer Filmarchive. Man kann da täglich mehrere frisch restaurierte und digitalisierte, fast durchweg steril auf Hochglanz polierte Klassiker bestaunen und sich anschließend erklären lassen, warum dieser leblosen, durchkanonisierten Version von Filmgeschichte die Zukunft gehört.

Die andere Filmgeschichte

Viel ergiebiger ist es jedoch, im wunderschönen Bologna, das dennoch im Stadtbild repräsentative Bauten nicht immer harmonisch mit einer entspannten Lebenspraxis verbindet, die zahlreichen thematischen Reihen zu erkunden, die eine ganz andere Filmgeschichte erschließen: entlang der Werke meist eher unbekannter Regisseure oder abgelegenerer Genres – und zumeist noch immer auf klassischen 35-mm-Filmkopien.

Dieses Jahr konnte man diese andere Filmgeschichte unter anderem entlang einer kleinen Gruppe wunderschöner japanischer Filme der dreißiger Jahre erschließen, in denen die heraufdrängende Moderne mit Vorliebe feuchtfröhlich in Bierhallen gefeiert wurde. Oder entlang einer Gruppe von Filmen, die am Vorabend des Zweiten Weltkriegs entstanden sind und denen die Schrecknisse der Folgejahre auf merkwürdige Weise eingeschrieben sind.

Oder eben entlang der Filmografie Allan Dwans, des Regisseurs von „Rendezvous with Annie“. Als einer der produktivsten Pioniere des amerikanischen Kinos führte Dwan bei über 400 Hollywoodfilmen Regie, seine Karriere erstreckte sich von den frühen zehner bis in die frühen sechziger Jahre; auch wenn man die kurzen, zu weiten Teilen verschollenen Produktionen der zehner Jahre herausnimmt, bleiben noch weit mehr als 100 Langfilme, von denen in Bologna ein klug ausgewählter Querschnitt präsentiert wurde.

Nach den Kriterien der Filmindustrie, in der er zeitlebens arbeitete, hatte Dwan seinen Karrierehöhepunkt in den Zwanzigern: Da war er ein Blockbusterregisseur, drehte mit den größten Stars der Zeit. Berührend sind zwei Filme mit der Stummfilmgöttin Gloria Swanson, die heute fast nur noch als ihre eigene Parodie, als alternde Hollywoodlegende Norma Desmond in Billy Wilders „Sunset Boulevard“, bekannt ist. „Manhandled“ und das opulente Melodram „Zaza“ zeigen, dass Swanson sich alle Allüren dieser Welt verdient hatte. Mit variantenreichem Schauspiel und offenherziger Körperlichkeit spekuliert sie gerade nicht auf weichgezeichnete Close-ups, sondern verschreibt sich noch den wildesten emotionalen Achterbahnfahrten mit Haut und Haaren.

Auch einen der schönsten Douglas-Fairbanks-Filme hat Dwan realisiert: Die Dumas-Verfilmung „The Iron Mask“ feiert zunächst noch einmal die beispiellose Virilität seines auch gerne ohne konkreten Anlass über meterhohe Mauern springenden Stars, um sich in der zweiten Hälfte in einen erstaunlich düsteren Totentanz zu verwandeln – der vielleicht nicht nur D’Artagnan, sondern im Angesicht des aufkommenden Tonfilms dem gesamten Stummfilmkino und dessen weltvergessenen Schwerelosigkeit gilt.

Swanson und Fairbanks hatten wenig Glück mit dem Tonfilm; auch Dwan gehörte ab den dreißiger Jahren nicht mehr zur ersten Riege der Studioregisseure, drehte zumeist billige B-Movies, oft für die finanziell schlecht ausgestatteten „Poverty Row“-Studios an der Peripherie Hollywoods. Erst unter diesen Bedingungen wird aus dem begnadeten Starkino-Handwerker Dwan ein auteur: ein Regisseur, dessen Handschrift sich den unterschiedlichsten Genres und Produktionszusammenhängen aufprägt. Dass die besten amerikanischen Filme schon in den Dreißigern eher am Rande der Industrie entstanden, zeigt „While Paris Sleeps“, eine traumartige Erzählung über den kriminellen Untergrund der Stadt, in dem sich, zwischen gigantischen Weinfässern und bedrohlichen Kohleöfen, eine berückende Gegenwelt formt.

Das dritte Element

Ein zentraler Aspekte der ob der ökonomischen Nüchternheit vor allem seines Spätwerks leicht übersehbaren Handschrift Dwans ist die Vorliebe des Regisseurs für Gruppenbilder. Zu sich selbst kommen die Filme nicht in Porträts von Individuen, auch nicht im (romantischen) Zwiegespräch, sondern in komplexeren Formen von Interaktion, die direkt im Bild ausagiert werden: Immer wieder lassen Dwans Einstellungen kompositorische Freiräume, die von verschiedenen Figuren besetzt werden können. Immer wieder konstruiert er „dynamische Dreieckskonstruktionen“ (Michael Baute in einem für die Zeitschrift cargo mit Rainer Knepperges geführten Gespräch über Dwan), in der eine Situation zwischen zwei Figuren erst durch die Vermittlung einer Dritten in Schwung gerät.

In der umwerfenden romantischen Komödie „Up in Mabel’s Room“ muss ein frisch verheiratetes Ehepaar seine Liebe schon nach den ersten 30 Tagen neu erfinden; das gelingt nicht im Einschluss in die Intimität, sondern durch eine beständige Inklusion immer neuer Dritter.

Doch Gemeinschaft ist nicht gleich Gemeinschaft. Wird die überschaubare Gruppe mit ihren funktional aufeinander bezogenen Mitgliedern zur anonymen, undifferenzierten Masse, droht Gefahr: So verwandelt sich im – grandiosen – Western „Silver Lode“ eine zunächst gut funktionierende kleinstädtische Gemeinschaft durch einen Eindringling in einen denunziatorischen Mob.

Deutlicher noch als in den Komödien zeigt sich die politische Dimension der Bilddynamiken Dwans. Ganz unversteckt inszeniert „Silver Lode“ eine Allegorie auf die Diffamierungskampagnen des Senators McCarthy, die 1954, im Produktionsjahr des Films, noch in vollem Gange waren: Der Film nennt seinen Bösewicht McCarty und spielt komplett am 4. Juli, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag. Dass der Film gleichzeitig als spannender, actionreicher Western funktioniert, ist ein weiterer Beweis für jenen (leider zumeist nur ästhetischen) Triumph von B-Movie-Intelligenz über aufgeblasenes Themenkino einerseits und hohles Virtuosentum andererseits. Dwans Karriere darf auch insgesamt dafür stehen.