Weiterwandern

In der Schuldenkrise kommen nun auch Geringqualifizierte nach Deutschland – etwa eine achtköpfige Familie aus Ecuador

■ Die Ursache: Seit Beginn der Wirtschaftskrise vor fünf Jahren steigt vor allem in Südeuropa die Arbeitslosigkeit: Griechenland und Spanien melden über 26 Prozent Arbeitslose, in Portugal sind es 17,5 Prozent. Zum Vergleich: 2007 lag die Quote in diesen Ländern noch zwischen 6 und 9 Prozent. Hart trifft es die Jungen: Über die Hälfte der Menschen unter 25 Jahren in Griechenland und Spanien ist ohne Job. In Portugal und Italien ist es mehr als jeder Dritte.

■ Das Ziel: Deutschland wird dagegen zum Einwanderungsland. Im vergangenen Jahr kamen rund 369.000 Menschen. Das sind so viele, wie seit 1995 nicht. Aus Südeuropa waren es 80 Prozent mehr Menschen als 2011. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) nannte die steigende Zuwanderung einen „Glücksfall“.

AUS HAMBURG KRISTIANA LUDWIG

Wenn die Party vorbei ist, dann kommt Alicia Torres*. Die Polstersessel vor den Fenstern, durch deren Scheiben die Leute nachts das Glitzern der Reeperbahn betrachten – sie stehen verlassen in einem Dunst aus kaltem Rauch und Schnaps. Eine Diskokugel lässt lautlos gelbe Kreise über das Parkett fliegen. Der Tresen klebt. Torres’ Arbeitsplatz ist ein Varietétheater: das Schmidts Tivoli in Hamburg, immer morgens, wenn die Lautsprecher verstummt sind. Sie wischt auf, was die Leute hinterlassen.

Torres hat ihr Haar zu einem Zopf gebunden und die weichen Strähnen mit Spangen zurückgesteckt. Ihre Hose hat einen Gummizug und die Sohlen ihrer Turnschuhe sind biegsam. Denn bei der Arbeit beugt sie ihren Rücken. Auf Knien schrubbt sie die Steintreppe, die hinter den Herrentoiletten beginnt und bis oben zur Bar führt. Sie befüllt die Müllsäcke mit Papiertüchern und zertretenen Kartoffelchips. Schnell, damit sie Pausen machen kann. Dann steht sie gerade, legt zwei Finger auf ihr Schulterblatt und sagt „Au“.

Fort aus Ecuador

Alicia Torres ist Buchhalterin. Vor zehn Jahren arbeitete sie in der Firma ihres Bruders, in Ecuador. Sie war seine Sekretärin. Heute steckt sein Foto in ihrer Brieftasche. Er ist nicht gesund. Man hat ihn angeschossen.

2005 ist es eine gute Idee, nach Spanien auszuwandern: dieselbe Sprache, weniger Gewalt. Ihr Mann Martino findet einen Job in einer Schlosserei, schmiedet Fensterrahmen und Gerüste für Neubauten. Torres kann sich um die Kinder kümmern. Drei Jahre lang. „Wir brauchen dich nicht mehr“, sagt Martinos Chef zum Schluss. Es werden keine Häuser mehr gebaut.

Die Wirtschaft ist schuld. Allen geht es so.

Immobilienblase, Finanzkrise, Rezession. „Totalkatastrophe“, nennt Martino das, was 2008 über Spanien hereinbricht. Die Krise der Banken wird zur Krise für die Familie. Draußen verlieren Ingenieure, Ärzte, Lehrer ihre Stellen und Studenten die Hoffnung auf einen Job. Alicia Torres verkauft Bingoscheine in einer Spielhalle, hilft in der Küche eines Restaurants, putzt die Zimmer eines Hotels. Dann bekommen sie Arbeitslosengeld: rund 430 Euro im Monat, ein halbes Jahr lang. Danach nichts mehr.

Im Jahr 2011 ziehen mehr als 18.000 Menschen von Spanien nach Deutschland, mit oder ohne spanischen Pass. Torres und ihr Mann, die vier Kinder, die kleine Enkeltochter und deren Vater, sie alle gehören dazu.

Seit die Schuldenkrise die Arbeitslosigkeit steigen lässt, kommen Monat für Monat mehr Menschen aus dem Süden Europas nach Deutschland. „Die Menschen, die wandern, sind in der Regel jung, motiviert und qualifiziert“, sagen Berliner Forscher vom Sachverständigenrat für Integration und Migration. Mittlerweile bevölkern spanische Hochschulabsolventen die Hauptstadt und bayerische Altenheime werben ihre Pfleger in den Krisenländern an. „Deutschland profitiert von den Fachkräften“, steht in den Zeitungen.

Torres ist 38 Jahre alt. Auch sie hat hier eine Chance: als Geringverdienerin und beim Jobcenter. Neun Euro pro Stunde, drei Stunden am Tag. Die Wohnung in der Vorstadt, Lebensmittel, Schulhefte, die Bahnfahrkarten – der Lohn, den Torres für das Putzen bekommt, reicht nicht aus. Also bezahlt das Amt, was ihr fehlt.

Im Klassenraum, zwölf Minuten mit der S-Bahn vom Theater, haben die Polinnen Pappbecher mit Kaffee auf die zerkratzten Holztische gestellt. Die Chinesin, in Blazer und Absatzschuhen, tippt auf der Klapptastatur eines winzigen Geräts Vokabeln ein. Es ist fast Mittag. In der hinteren Reihe, neben dem Mann aus Honduras und den beiden Spaniern, blickt Torres auf ein Buch voller Fotos. „Was ist das für eine Situation?“, fragt die Frau im Pollunder, die vorne am Whiteboard steht.

Für den Deutschkurs hat Torres eine lange Strickjacke um ihre Jogginghose geschlungen. Ihr Nagellack ist golden, wie ihre Ringe und die Creolen. Die Bilder, die sich auf den Buchseiten wellen, zeigen Männer, die sich die Hand geben, und Frauen, die aus Weingläsern trinken. „Was kann man mitbringen, wenn man zu Besuch kommt?“, fragt die Lehrerin. Torres hebt die Hand. „Kuchen“, sagt sie.

Gebäck aus Ecuador gibt es in Hamburg nicht. Auch deshalb sitzt Torres vor der Bürotür der Beraterin, die bei der Arbeiterwohlfahrt spanisch spricht. Sie braucht Hilfe, um die deutschen Formulare zu verstehen, wenn sie ein Café eröffnen will. Eines mit Brot aus der Heimat und Kaffee. Ein eigenes Lokal, im Bahnhofsviertel. Das wünscht sie sich. Ganz leise singt sie zur Musik ihrer Kopfhörer während sie wartet.

Drinnen zieht Torres dann Briefe aus einer Klarsichtfolie. Ein Bündel Beamtendeutsch. „Weiterbewilligung der Leistung zur Sicherung des Lebensunterhalts“, steht auf einem Papier. „Gesundheitszentrum, Rückentherapie“, auf einem anderen. Die Beraterin übersetzt. Formulare und Vorschriften – Papier ermöglicht Torres’ Familie das Leben in Deutschland. Weil Martinos Vater Spanier ist.

Die Eintrittskarte

Bürger von Ländern, die zur Europäischen Union gehören, dürfen in jedes andere EU-Land reisen und dort arbeiten. Sie dürfen staatliche Unterstützung in Anspruch nehmen, wenn sie den Job verlieren. „Arbeitnehmerfreizügigkeit“ nennen das die Beamten. Und das spanische Aufenthaltsrecht ist dafür die Eintrittskarte.

Dass immer mehr Menschen dieses Ticket nutzen, spüren die Mitarbeiter von Hamburger Beratungsstellen seit rund einem Jahr. Nach den griechischen Akademikern und den spanischen Architekten tauchen jetzt jeden Tag Menschen auf, die bereits im Süden Einwanderer waren. Lateinamerikaner, zum Beispiel. Seit den neunziger Jahren lebten Tausende von ihnen in Spanien. Der Boom des Bausektors, die Tourismusbranche und die Dienstleistungsjobs hatten sie angelockt.

Als die Krise begann, bot ihnen die spanische Regierung Geld, damit sie nach Südamerika zurückkehren. Doch viele harrten aus. Oder sie gehen nach Nordeuropa, um dort ihr Glück zu versuchen.

Wenige Stellen

Das richtige Dokument für eine kleine Chance heißt „Daueraufenthalt-EG“. Es bekommt, wer lange genug in einem europäischen Land gearbeitet hat. In Deutschland dürfen sich die Besitzer dieses Papiers allerdings nur um die wenigen Stellen bewerben, die kein europäischer Staatsbürger annehmen möchte. Arbeit, die oft hart ist oder schmutzig oder bei der das Gehalt nicht zum Leben reicht.

Übrig bleiben Jobs für Menschen, die sonst keine Perspektive haben. Jobs wie der von Alicia Torres.

Hinter der großen Bühne mit der rosafarbenen Hauskulisse aus Styropor sind acht Pissoirs und fünf Toiletten bei den Herren, acht Kabinen für die Frauen. Am Ende wischt Torres noch durch. Vorne im Saal hört sie den Staubsauger ihrer Kollegin dröhnen. Drüben sind alle Kronleuchter eingeschaltet und die Cafétische, über die am Abend weiße Tischdecken geschlagen werden, sind am Bühnenrand zusammengeschoben. Der Vorhang ist geöffnet. Von dort, wo sie die Spiegel der Maskenbildner putzt, könnte Torres direkt in die Gesichter des Publikums blicken. Doch es sieht niemand zu.

Der Streit mit dem Vorarbeiter ist jetzt ein paar Wochen her. Er hielt sie an den Armen fest, da rief sie die Polizei. Die Chefin hat sie angeschrien deswegen. Sie schade der ganzen Reinigungsfirma, wenn sie im Theater Probleme mache.

Martino macht jetzt Zeitarbeit. Als Maler, Kellner, Pizzabäcker, Gärtner ist er in den letzten zwei Jahren als Niedriglöhner untergekommen. Mit jeder neuen Arbeit wandert er durch die Stadt. Vom Hamburger Hauptbahnhof in die Stadtteile, nach Altona oder Övelgönne. Seine Erfahrung als Schlosser hilft ihm nicht. Um die Ausbildung zu beweisen, fehlt ihm das Formular.

Elena, die älteste Tochter, packt in einer Fabrik Nüsse in Kartons. Alicia Torres lädt sie und die kleine Enkelin manchmal zum Essen ein. Dann kauft sie die grünen Bananen, die es nur in dem schmalen Kiosk am Busbahnhof gibt, schneidet sie in Streifen und brät sie zusammen mit Käse und Hühnchen. Das kostet nicht viel und macht satt. Wie zu Hause.

Deutschland profitiert. Auch von Arbeitnehmern wie Torres und ihrer Familie. Denn sie vergleichen ihr Leben hier mit dem in ihrer Heimat. Diese Erinnerung macht ihre Arbeit so billig.

„Ökonomisch gesehen“, sagt der Osnabrücker Professor Christoph Rass, der Arbeitsmigration untersucht, „brauchen wir sie.“ Durch die Staatsschulden werde das Wohlstandsgefälle zwischen den europäischen Ländern immer größer. Er meint die Not der Menschen in Südeuropa – und ihren Wunsch, im Land der Krisengewinner neu anzufangen.

Schichtende

Im Schmidts Tivoli Theater legt Alicia Torres ihre Stirn an den Türrahmen neben dem Zigarettenautomaten. „Ich möchte schlafen“, flüstert sie. Die Gummihandschuhe hat sie abgestreift. Sie zieht den Kragen ihres T-Shirts bis zur Stirn und tupft den Schweiß ab. Dann holt sie den Rucksack, in dem sie ihre Deutschbücher verstaut hat, hinter einem Tresen mit Leopardenfellmuster hervor.

Im Saal sitzt jetzt der Vorarbeiter mit dem Chef zusammen, einem kräftigen Mann, der früher einmal Bierbrauer war. Den Zettel mit dem Schichtplan haben sie vor sich auf einen Cafétisch gelegt. Torres hängt ihren Rucksack um. Sie unterschreibt für heute und geht.

*Alle Namen geändert.