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Archiv-Artikel

Islam und Westen als Ideologie

Auch wenn Samuel Huntington falsch lag: Die Rede vom „Kampf der Kulturen“ ist richtig. Denn die Kultur ist inzwischen das Feld, auf dem reale Konflikte ausgetragen werden

Die Berufung auf die Religion wird zu etwas Polemischem: zum Feld, auf dem Identität hergestellt wird„Dialog der Kulturen“ setzt den Liberalismus als Feld voraus, auf dem er überhaupt stattfinden kann

Es gibt eine allgemeine Erhitzung der Gemüter, einen weltweiten Anstieg der politischen Erregung. Erstaunlich daran ist nicht nur seine anhaltende Wirkung, sondern auch sein Verlauf: Auf den Streit um zwölf eigentlich unbedeutende dänische Karikaturen folgte nicht etwa eine annähernde Empörung über die neuen Folterbilder aus Abu Ghraib. Vielmehr scheint die anschwellende Kontroverse um den türkischen Film „Tal der Wölfe“ die Stafette zu übernehmen. Wie ist all dies nun einzuordnen: Ist das ein „Kampf der Kulturen“? Oder ist es bereits antiislamisch, von einem solchen auch nur zu sprechen?

Letzteres würde nur dann stimmen, wenn man unter „Kulturen“ das versteht, was man dem Vater dieser Parole, Samuel Huntington, zu Recht vorgeworfen hat: Die Vorstellung, diese seien fixe Einheiten, monolithische Blöcke, die quasi „naturgemäß“ in Konflikt miteinander geraten. Die dem zugrunde liegende Überzeugung, eine Einteilung der Welt nach (wie auch immer definierten) kulturellen Merkmalen bedeutet notwendigerweise eine Hierarchisierung – in unserem Falle die Bekräftigung einer westlichen, amerikanischen Vorherrschaft, die es zu verteidigen gelte. In diesem Sinne wäre tatsächlich bereits die Bezeichnung „Kampf der Kulturen“ für die aktuellen Ereignisse eine Kriegserklärung und keine Analyse.

Trotzdem sollte man diese Formulierung nicht so schnell ad acta legen, wenn man versuchen will zu verstehen, was derzeit vor sich geht. Thomas Assheuer schrieb kürzlich in der Zeit in einer explizit gegen Huntington gerichteten Polemik, die Religion sei „oft nur eine Maske …, mit deren Hilfe brutale Anerkennungs- und Verteidigungskonflikte getarnt werden“. Das aber scheint genau der Punkt eines grundlegenden Missverständnisses zu sein.

Die Vorstellung, in der Religion nur eine irrationale Maske für die ihr zugrunde liegende Rationalität zu sehen, bedeutet, die Religion nicht ernst zu nehmen. Es erinnert an jene Charakterisierung, die aus ihr ein „Überbauphänomen“ gemacht hat, das man auf seine reale Basis zurückführen muss. Solcherart reduziert, begibt man sich der Möglichkeit, die spezifische Funktion, die der Islam heute hat, zu verstehen. Dieser ist keine Maske, um andere Wahrheiten wie Armut, Ausbeutung, Chancenlosigkeit zu tarnen. Er ist vielmehr – gerade aufgrund dieser Probleme – das Feld, auf dem Identität hergestellt wird: eine Identität, die nicht mehr national begrenzt ist, sondern eine transnationale, panislamische Anrufung, der Muslime von der Türkei bis nach Pakistan folgen können.

Wie bedeutsam diese Funktion des Religiösen ist, erschließt sich, wenn man sich Folgendes vor Augen hält: Selbstverständlich gibt es reale Konflikte um Teilhabe und Macht – aber trotz ihrer bedrängenden Realität werden sie nicht in sozialen oder ökonomischen Auseinandersetzungen ausgetragen: Das Feld, auf dem sie inszeniert und „ausgefochten“ werden, ist die Religion oder die Kultur. Das ist nicht nur etwas anderes als eine Maske, es ist deren Gegenteil.

Diese Funktion kann die Religion aber nur übernehmen, wenn ihre Bedeutung grundlegend verschoben wird. Denn Religion wird hier nicht im religiösen Sinne von Frömmigkeit oder Erfahrung des Heiligen aktualisiert. Die Berufung auf die Religion wird zu etwas Polemischen, zu etwas, das man gegen andere einsetzt, zur Herausforderung eines ebenso imaginären Anderen – des Westens. Deshalb ist auch die vielerorts erörterte Frage, wie weit die Muslime eins mit ihrem Glauben sind oder welche Brüche, als Indizien einer aufklärerischen Distanz, es da geben kann, letztlich irrelevant. Denn das Religiöse fungiert hier nicht mehr vorwiegend als Bezug auf ein Transzendentes, sondern als Herstellung einer Gemeinschaft – einer Identität also, die gegen etwas gerichtet ist. Sie wird zu einem Feld, auf dem sich Globalisierungsverlierer vereinen können. So hat die Karikatur-Affäre mit ihren verständlichen ebenso wie mit ihren unverhältnismäßigen Reaktionen gezeigt, dass die Forderung nach Respekt für die religiösen Überzeugungen sich in ihr Gegenteil verkehren und die Religion zu einem Mittel der Herausforderung des liberalen Westens werden kann. Das Heilige wird zum Banner, unter dem sich Muslime weltweit gegen den Westen sammeln können. In diesem Sinne muss man sagen: Huntington hat Recht – die Religion ist die ideologische Form, in der Konflikte mit dem Westen ausgetragen werden. Huntington hat also dann Recht, wenn man den „Kampf der Kulturen“ als den „Kampf der kulturellen Ideologien“ versteht.

Natürlich ist solch eine Kulturalisierung der Konflikte brandgefährlich. Nur haben die, die davor warnen, übersehen, dass eine solche bereits stattgefunden hat. Der Charakter der Auseinandersetzung hat sich längst von einer säkularen, ökonomisch-sozialen auf eine religiöse, fundamentalistische Ebene verlagert. Diese Verschiebung ist gleichbedeutend mit dem Wandel von rationalen Konflikten, die letztlich quantifizierbar, also teilbar und lösbar schienen, zu einer kulturellen Aufladung, die daraus identitäre Konflikte macht. Wir haben es nicht mit einer irrationalen Maskierung von rationalen Problemen zu tun – die Auseinandersetzung selbst hat sich vielmehr irrationalisiert.

Ursache dafür ist das, was man als terroristischen Totalitarismus bezeichnen kann. Der Terrorismus hat nicht nur das Terrain des Kampfes von jeder rationalen und verhandelbaren Ebene abgelöst. Er hat darüber hinaus auch eine unglaubliche Ausdehnung der Konflikte bewirkt, indem er nicht nur jene in die kulturell-religiöse Auseinandersetzung involviert, die eine solche wollen, sondern auch jene hineinzieht, die sie nicht wollen. Er zwingt auch Säkulare und Moderate dazu, sich als Muslime zu bekennen und damit – ob beabsichtigt oder nicht – seine Reihen zu verstärken. Das ist das Totalitäre daran. Damit wird die Unterscheidung zwischen Radikalen und Gemäßigten zunehmend aufgeweicht und immer weitere Bevölkerungsteile werden einbezogen. Wo genau verläuft denn die Grenze zwischen Islam und Islamismus, die viele Liberale so gerne beschwören? Sie wird zusehends diffuser.

Der terroristische Totalitarismus erklärt auch, warum der viel beschworene „Dialog“ der Kulturen nicht hilft. Denn dieser setzt den Liberalismus nicht nur als Dialogpartner voraus, sondern auch als Feld, auf dem ein solcher überhaupt stattfinden kann. Mit der religiösen Identität hat der sich der Islamismus aber von vornherein auf einem anderen Terrain platziert: Er hat die Religion nicht nur zum Einsatz, sondern auch zum Medium der Auseinandersetzung gemacht. Damit findet sich der Westen nicht nur in einer ungewollten Freund-Feind-Konstellation wieder. Er sieht sich auch genötigt, seine Ordnung wie eine Glaubenswahrheit zu verteidigen. Kurz – der Islamismus zwingt den „Westen“ in die Irrationalität eines Glaubenskampfes. Dieses totalitäre Spiel kann man nicht gewinnen. Man kann sich ihm nur verweigern. ISOLDE CHARIM