: Gestrudeltes Gemisch
Ich denke oft an … Frau Káthi. An ihre köstlichen Strudel und Nudeln. Die ungarische Küche jenseits der Paprika
von TILL EHRLICH
Es begann immer am Küchentisch, einem robusten Exemplar mit abgewetzter Tischplatte aus Nussbaumholz. Dort widmete sich Frau Káthi, eine 78-jährige katholische Donauschwäbin, jeden Sonntagmorgen vor der Messe dem Strudelbacken. Ein Ritual, das wortlos und absolut konzentriert zelebriert wurde. Ich war sieben Jahre alt und durfte zusehen, wie sie dem zähen Teigklumpen zusetzte, ihn unnachgiebig knetete, walkte, zerrte und zog. Sie krempelte ihn um, drehte, wendete, rollte und dehnte ihn, bis die schäbige Nussbaumplatte unter ihm langsam verschwand. Ich war froh, kein Strudel zu sein.
Obwohl es früh am Morgen war, brütete draußen schon die pannonische Augusthitze, doch in der Küche war es noch heißer, weil immer schon die Hühnerbrühe fürs Mittagessen auf dem Herd vor sich hin köchelte und der Backofen vorgeheizt wurde, denn Strudelteig braucht Wärme. Die stumme, unnachgiebige Intensität, mit der Frau Káthi sich dem sonntäglichen Strudel widmete, faszinierte und ängstigte mich zugleich.
Das Ausrollen folgte einem Rhythmus, dessen Takt durch das Wippen der Ellenbogen vorgegeben wurde. Dann nahm Frau Káthi den Teig in die Hand und zog ihn über ihrem Handrücken in die Breite. Jetzt legte sie ein frisches Tischtuch auf, stäubte es mit Mehl ein und begann behutsam den Teigfladen über den Tisch zu ziehen, bis er papierdünn wurde und das Tuch durch ihn hindurch schimmerte. Dabei umkreiste die alte Frau langsam den Tisch, zupfte hier und da ein wenig, zog unablässig den Teig über die Tischkante, riss dabei flink die überhängenden dickeren Teigränder ab. Aus den gesammelten Teigresten entstand später noch ein kleiner Restestrudel, der an die Zigeuner weggeschenkt wurde. Dabei war ihr Blick unablässig auf den Teig gerichtet, schon das erste Anzeichen eines Risses oder einer dünner werdenden Teigstelle wurde erspäht und penibel ausgebessert.
Wir verbrachten fast jeden Sommer in Ungarn am nordwestlichen Ufer des Plattensees, bei Frau Káthi, unserer Wirtin, die im Sommer ihr ganzes Haus an schwäbische und ostdeutsche Urlauber vermietet hatte, bis auf die Küche und ein winziges Zimmer mit Schwarzweißfernseher, silbernem Kruzifix und dem Bett, in dem sie schlief. Sie war eine kleine, gebückt gehende, doch drahtige Frau, die nie das Haus ohne schwarzes Kopftuch verließ und mühelos vom Ungarischen ins Deutsche wechselte – jener Sprache, die sie schwäbisch nannte, ebenso wie sie sich selbst niemals als Deutsche, sondern immer als Schwäbin bezeichnete.
Frau Kathi vollzog jedoch nicht nur ihre sonntäglichen Exerzitien in Sachen Strudel, meist folgten zwei verschiedene Sorten Nudeln, die von Hand ausgerollt wurden und für die sie zwei verschiedene Teige knetete: Aus dem einen entstanden gelbe Eiernudeln, die als Einlage für die Hühnerbouillon bestimmt waren. Der zweite Teig war für die Nachspeise gedacht, für süße Mohn- und Nussnudeln. Dieser Teig wurde mit mehr Eiern gemacht. Wenn er ausgerollt und in feine Streifen geschnitten war, legte Frau Káthi ein frisches Laken auf ihr Bett. Dort breitete sie die Nudeln zum Trocknen aus. Später wurden sie gekocht, anschließend mit zerlassener Butter und entweder mit geriebenen Walnüssen und Puderzucker oder mit gesüßtem Mohn bestreut. Manchmal gab es auch noch Sauerrahm dazu.
Eine besondere, südosteuropäische Spielart der Nudel sind die Nockerln, die in Ungarn „Nokedli“ heißen, die beliebteste ungarische Sättigungsbeilage und Gemüsesuppeneinlage darstellen und so wenig rein ungarisch sind, wie die ungarische Küche selbst. Sie haben nichts mit Salzburger Nockerln zu schaffen, das Nockerl ist eigentlich eine urschwäbische Nudel. Ein knubbeliges Spätzle. Es wird nicht geschabt, sondern mit dem Handballen durch ein Sieb ins kochende Wasser gedrückt. Das Sieb hat pfenniggroße Löcher, sie geben den Nockerln ihre dickbauchige Form.
Die Nockerln haben die so genannten Donauschwaben in die ungarische Küche eingebracht; es handelte sich überwiegend um verarmte Süddeutsche, die nach den Türkenkriegen im 17. Jahrhundert in den südlichen Donaugebieten und im Karpatenbecken siedelten. Durch die habsburgische Siedlungspolitik wurden die Deutschen in diese Region gelockt, und langfristig gaben sie ihr einen wirtschaftlichen Aufschwung und kulturelle Impulse.
Während sich die schwäbische Küche in Deutschland bis heute nahezu renitent gegenüber Erneuerungen und Verfeinerungen von außen zeigt, entstand in Ungarn und den angrenzenden Regionen eine für das Andere offenere kulinarische Kultur. Ob in Böhmen, Mähren, Siebenbürgen, an der Adria oder im Banat – die multiethnischen Kulturen der Juden, Italiener, Ukrainer, Serben, Slowaken, Tschechen, Kroaten, Slowenen, Rumänen, Ungarn oder Deutschen prallten im imperialen Vielvölkergebilde der Habsburger stets aufeinander und grenzten sich voneinander ab.
Doch bis zu einem gewissen Punkt befruchteten sie sich auch gegenseitig. Die Küche der untergegangenen Donaumonarchie war ein facettenreiches und multiethnisches Gemisch und Gemasch, eine köstliche kulinarische Verwurstelung, die mit nationalstaatlich orientierten Begriffen nicht zu beschreiben ist. Es gibt daher in diesem Sinne weder eine rein österreichische noch eine rein ungarische Küche.
Auch der Strudel wurde mit den Zeitläuften adaptiert und in den Alltag integriert. Seine Wurzeln liegen nicht in Schwaben, sondern in Arabien. Baklava, das tausendblättrige Gebäck des Orients, ist vermutlich die Mutter aller Strudel. Es gelangte über die byzantinische Küche in die des Osmanischen Reiches. Die Janitscharen, osmanische Elitetruppen, sollen die Rezeptur während ihrer Invasion bis kurz vor Wien gebracht haben. Der türkische Börek ist gewiss ein Vorläufer des Strudels, doch der Apfel- oder Quarkstrudel, wie wir ihn heute kennen, fand seine Vollendung erst in der k. und k. Monarchie. Aus den bäuerlichen Milieus gelangte er in die prosperierenden Metropolen der Donaumonarchie wie Wien, Budapest, Prag oder Triest, wurde von Tortenakrobaten verfeinert und erlangte von dort aus seine weltweite Popularität. Der äußerlich poröse Strudel mit seinem überbordenden Inneren ist ebenso ein Symbol des Fin de Siècle wie die Kaffeehäuser oder literarischen Salons Kakaniens.
Eine eigensinnige Speise ist auch Langosch, ein in Fett gebackener Fladen. Er wird aus weichem Hefeteig bereitet, vermengt mit durchgepressten, gekochten Kartoffeln. Ursprünglich war es überreifer weißer Sauerteig, der beim Brotbacken übrig geblieben war und in heißem Fett ausgebacken wurde. Langoschs sind flache knusprige Küchle, die in Ungarn gern mit Kristallzucker bestreut oder zusammen mit Sauerrahm zum Tee gereicht werden. Aber es gibt auch eine deftige Variante, bei der der heiße Fladen mit Knoblauchsaft beträufelt und mit Salz bestreut wird. Zudem wird Langosch auch als Sättigungsbeilage zu Gulasch und Braten mit Soße gegessen. Bis vor wenigen Jahren war Langosch in Ungarn ein preiswerter und beliebter Imbiss. Doch an den Buden schmeckte er oft zäh und nach ranzigem Fett. Kein Wunder, dass heute die Langosch-Buden in Ungarn von Fastfoodketten verdrängt werden.
In Deutschland sind Kohlrouladen oft ein Albtraum: Ledrige Kohlblätter umschließen einen massiven Fleischklops, der wie Senkblei im Magen liegt. In Ungarn findet man eine Variante, die pikanter und leichter schmeckt. Die Füllung ist raffiniert, enthält wenig Fleisch, dafür aber gekochten Reis. Zudem sind die Kohlblätter aus Sauerkohl, was sie herzhafter und weicher macht. Den Kohl haben die Schwaben nach Ungarn gebracht, die Sauerkrautbereitung die Slowaken.
Die ungarische Küche ist noch immer überwiegend bäuerlich geprägt, autochthone Deftigkeit ist ihr Credo. Doch wo bleiben die Verfeinerungen, die über das Rustikale hinausgehen und Ungarns Küche auf eine zeitgemäße Ebene heben? Der letzte wirkliche Küchenreformator war Károly Gundel. Er kam aus einer jüdischen Hotelier-Dynastie, die im Budapest der Jahrhundertwende das berühmteste Restaurant Ungarns, das „Gundel“, gegründet hatte. Károly Gundel verknüpfte dort bäuerliche ungarische Gerichte mit jüdischen und französischen Einflüssen. Gundels Schaffensperiode endete 1949, sein Restaurant wurde verstaatlicht, er erblindete. Die Ungarn haben ihn später auf den Sockel gestellt; er ist so etwas wie Ungarns Antwort auf Auguste Escoffier, den Erfinder der Grand Cuisine. Doch seit Gundel ist nicht mehr viel Neues in Ungarns Kochtöpfen passiert. Die ungarische Küche verschließt sich heute vehement jeder Erneuerung. Köche, die experimentieren, gefährden die Identität der ungarischen Küche, heißt es. Vielleicht auch, weil es eine kollektive ungarische Angst gibt, von außen beherrscht zu werden. Ein xenophober Reflex, der auch einer kulinarischen Erneuerung entgegensteht?
Unvergessen sind die Gundel-Palatschinken, bis heute der Klassiker in Ungarn, vom heimischen Herd bis hin zum Spitzenrestaurant. Hauchdünne Eierkuchen werden mit Rosinen und geriebenen Walnüssen gefüllt, in Butter gebräunt, in heißer Schokoladensoße gebadet und mit Rum flambiert. Ein dekadentes Dessert. Noch heute ist es ein Höhepunkt auf jeder besseren ungarischen Hochzeit. Beim Flambieren geht im Saal das Licht aus.
Wenn Frau Káthis Strudelteig wie eine dünne Haut den Tisch bedeckte, begann der schwierigste Teil des Unternehmens. Denn jetzt musste Frau Káthi abschätzen, wie viel Füllung der Strudel aushalten konnte. Mit zu wenig Füllung würde er teigig schmecken, mit zu viel würde die Teighaut beim Backen platzen, der ganze schöne Saft auslaufen und auf dem Blech verbrennen. Die Füllung wechselte an jedem Sonntag: Einmal war es Topfen, körniger, saftiger Quark, der mit Rosinen vermengt wurde; ein anderes Mal waren es Sauerkirschen, Marillen, Pfirsichstücke, geriebene Maronen und Walnüsse oder ein köstliches Gemisch aus gesüßtem Mohn und sauren Apfelschnitzen.
Frau Káthi bespritzte den Teig mit flüssigem Schweineschmalz, als wäre es Weihwasser, und häufte die Füllung in einer Schlangenlinie auf den Teig. Tief über den Tisch gebeugt, hob sie das Tuch an, wickelte alles zu einer großen Rolle, die an einen platt gedrückten weichen Penis erinnerte, noch einmal mit Schweineschmalz beträufelt wurde und schließlich ruhen durfte, während sie zur Messe ging. Wenn sie zurückkam, wurde als Erstes der Strudel in den Backofen geschoben. Das Gas kam aus einer hellroten Stahlflasche, die in der Ecke stand. Der Strudel bräunte sich in der Oberhitze, blähte sich auf, sammelte seine Säfte und begann das kleine Haus mit einem unwiderstehlichen Geruch auszufüllen. Nur mühsam konnte ich meine Gier unterdrücken, ihn noch heiß zu verschlingen.
TILL EHRLICH, 41, ist freier Autor in Berlin