An der Lebensrettungsmaschine

Wie es ist, für einen anonymen Leukämiekranken Stammzellen zu spenden. Und wie, seinen Lebensretter kennen zu lernen

VON MICHAEL AUST

Seit dreieinhalb Stunden halte ich die Welt in meiner Hand. Genauer gesagt einen blau-grünen Knautsch-Erdball, den ich alle paar Minuten fest drücken muss, damit mein Blutdruck nicht absackt. Auf dem Krankenhausstuhl darf ich ansonsten keine großen Bewegungen machen. Wie auch, mit einer Nadel im linken Arm und einer im rechten Handgelenk?

An den Nadeln hängen Schläuche, durch die mein Blut in eine Zentrifuge fließt und wieder zurück in den Körper. Die Prozedur heißt Apherese und ist ein spezielles Blutspendeverfahren, bei dem das Blut in seine Bestandteile gefiltert wird. In einem durchsichtigen Beutel oberhalb meines Kopfes sammelt sich eine rötlich gelbe Flüssigkeit: Stammzellen. Die werden in den nächsten 48 Stunden einem Leukämiepatienten transplantiert. Sie sind seine letzte Chance.

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Als Irina Hagelganz ihre letzte Chance bekommt, ist sie sechzehn. Geboren in Nabereschnyje Tschelny in Tatarstan, einer autonomen Republik im östlichen Teil des europäischen Russland, kam sie mit vierzehn Jahren als Spätaussiedlerin nach Deutschland. Als die Kleinstadt Nabereschnyje Tschelny noch in der Mitte des Sowjetreichs lag, siedelte sich dort das Industriekombinat Kamas an. „In der Fabrik wurden Lkws gebaut“, sagt Irina. „Als ich sieben war, brach dort ein großes Feuer aus. Dabei soll Gift ausgetreten sein.“ Viele Kinder seien nach der Brandkatastrophe krank geworden. „Im Oktober 2002 sind wir nach Deutschland gekommen“, ergänzt Olga Hagelganz, Irinas Mutter. „Da war Irina schon krank, wir wussten es nur nicht.“

An einem Freitag im Februar 2003, kurz nach der Übersiedlung der russlanddeutschen Familie ins brandenburgische Luckenwalde, geht Irina wegen ständiger Bauchschmerzen zum Arzt. „Die Ärztin meinte, wenn es in zwei Tagen noch nicht weg ist, soll ich wiederkommen“, erinnert sich Irina. Am Montag geht sie wieder hin, die Ärztin nimmt Blut ab. Im Blut sind unnatürlich viele Leukozyten, weiße Blutkörperchen. Die Ärztin schreibt eine Überweisung, Olga fährt mit ihrer Tochter noch am gleichen Tag nach Berlin in die Charité. Am Abend die Diagnose: chronische Leukämie, Spätstadium. „Mama und ich haben gelacht“, sagt Irina, die zwei Jahre später gutes Deutsch spricht. „Wir haben gedacht, vielleicht verstehen wir was nicht.“

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Schwester Michaela sagt: „Sie sehen blass aus“, und bringt einen Kaffee. Mein gesamtes Blut ist bereits viermal aus dem einen Arm raus- und zum anderen wieder reingeflossen. Ein Kreislauf, der meinen eigenen aus dem Takt bringt. Es ist fast Mittag, seit 8 Uhr hänge ich an der Apherese. Langsam habe ich mich an die Nadeln im Arm gewöhnt. Ich blicke auf den unter der Decke hängenden Fernseher: Skispringen. Es ist der 3. Januar 2006.

Mein Weg zum Stammzellspender beginnt im Juni 2001. Auf einer Typisierungsaktion in Münster sucht die Deutsche Knochenmarkspenderdatei DKMS einen Knochenmarkspender für einen jungen Mann, der an Leukämie zu sterben droht. Wie viele andere an diesem Tag lasse ich mir fünf Milliliter Blut abnehmen und bin registriert, „im Suchlauf“, wie die Ärzte das nennen.

Die DKMS ist mit über 1,3 Millionen potenziellen Spendern die größte Knochenmarkspenderdatei der Welt. Ihre Daten fließen in einen internationalen Pool, in dem die Gewebemerkmale von zehn Millionen Menschen registriert sind. „Trotzdem findet jeder vierte Patient keinen Spender mit den notwendigen passenden HLA-Merkmalen“, sagt Malte Wittwer von der DKMS. „HLA – Humane Leukozytenantigene – sind die individuelle ‚Signatur‘, durch die der Körper zwischen eigenen und fremden Strukturen unterscheidet, das ist sozusagen die Sprache des Immunsystems. Wir sagen immer: Spender und Patient müssen sich verstehen.“ Die Stammzellen des Spenders dürfen dem Immunsystem des Patienten nicht als fremd erscheinen.

Seit ihrer Gründung 1991 hat die DKMS 8.600 Leukämiekranken einen Stammzellspender vermittelt. Die Gewebemerkmale werden zur Hälfte vom Vater und zur Hälfte von der Mutter vererbt, und hätten die Deutschen mehr Kinder, könnten viele Patienten Stammzellspenden von ihren Geschwistern bekommen. So aber schwankt die Chance für einen Patienten, einen Fremdspender zu finden, zwischen 1:20.000 und 1:10.000.000 – je nachdem, wie häufig seine Gewebemerkmale sind.

Es dauert vier Jahre, bis ich wieder von der DKMS höre. „Aufgrund der bei Ihnen bisher durchgeführten Blutuntersuchungen wurde festgestellt, dass Sie mit einem Patienten, für den ein Stammzellspender gesucht wird, in mehreren Gewebemerkmalen übereinstimmen“, heißt es umständlich in einem Brief vom 14. September 2005. „Dieser Befund bedeutet, dass Sie für den Patienten in die engere Wahl als möglicher Stammzellspender kommen. Wir möchten Sie bitten, sich baldmöglichst bei uns zu melden.“

In der Warteschleife läuft „I will survive“. Von der Mitarbeiterin, die sich nach dem Refrain meldet, erfahre ich, dass ich mein Blut noch einmal testen lassen muss. Um sicherzugehen, dass ich wirklich der passende Spender für den Patienten bin. Im September 2005 lasse ich mein Blut untersuchen, Ende November liegt das Ergebnis vor. „Es scheint so zu sein, dass Sie der richtige Spender für den Patienten sind“, schreibt die DKMS. Wegen des guten Zustands des Patienten sei eine Transplantation in nächster Zeit aber noch nicht geplant. Ich freue mich, dass es „meinem“ Patienten besser geht. Obwohl ich eigentlich nichts von ihm weiß. Noch nicht einmal, ob er ein Mann, eine Frau oder ein Kind ist.

Am 7. Dezember kommt wieder ein Brief: „Heute erreicht uns eine Nachricht von der Klinik des Patienten. Der Patient sollte, sofern Sie uns noch als Stammzellspender zur Verfügung stehen, demnächst transplantiert werden.“ Ich werde zur Voruntersuchung nach Dresden gebeten. Es wird ernst.

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Tim Vosgröne sagt, er wäre vermutlich nie Stammzellspender geworden, hätte es an der Uni Siegen nicht diese Typisierungsaktion gegeben. „Nicht weil ich nicht gewollt hätte, sondern weil ich nie die Gelegenheit dazu hatte.“ Die Gelegenheit kommt 1995, als ein Siegener Student für seine leukämiekranke Schwester einen Knochenmarkspender sucht. Tim lässt sich typisieren, hat aber für die Patientin die falschen Gewebemerkmale. Seine Daten bleiben gespeichert. Im Suchlauf.

Im Frühjahr 2003, als Irina Hagelganz in Berlin mit chronischer myelotischer Leukämie in die Virchow-Klinik der Berliner Charité eingewiesen wird, schreibt Vosgröne in Siegen gerade an seiner Doktorarbeit in Chemie. Die DKMS teilt ihm in einem Brief mit, dass er als Stammzellspender für eine Patientin infrage kommt. „Es hätte bessere Zeitpunkte gegeben“, sagt Tim. „Aber in dem Moment dachte ich: Das musst du jetzt machen. Das war nie eine Frage.“ Der „Suchlauf“ ist beendet, jemand hat die Stopptaste gedrückt.

Irinas Immunsystem wird in den Tagen vor der Transplantation planmäßig auf null gefahren. Sie bekommt Bestrahlung und Chemotherapie, um die kranken – wie auch die gesunden – Stammzellen abzutöten. Durch die Chemo fallen ihr die langen, blonden Haare aus. Bei einer Leukämie, dem Blutkrebs, vermehren sich die weißen Stammzellen unnatürlich. Ein genetischer Defekt lässt die Zellen wachsen. Wodurch er ausgelöst wird, ist unklar.

„Es gibt zwei Formen der Leukämie, die akute und die chronische“, erklärt Wolfram Ebell, der Arzt, der Irina vor zwei Jahren im Berliner Virchow-Klinikum behandelt hat. „Bei der akuten schaffen es achtzig Prozent mit einer Chemotherapie, die anderen zwanzig Prozent brauchen einen Stammzellspender. Bei der chronischen Leukämie müssen wir immer transplantieren.“ In der Therapie werden die kranken Zellen zunächst abgetötet und anschließend die gesunden Stammzellen eines passenden Spenders übertragen. „Nach der Bestrahlung sind das Abwehrsystem des Körpers und der Blutaufbau total zerstört“, sagt Ebell. „Deshalb müssen die Patienten nach der Transplantation drei bis vier Wochen auf einer ‚Life-Island‘, einem sterilen Zimmer, bleiben.“ Erst danach sei das Immunsystem stark genug, um eine mögliche Infektion zu überstehen.

Bei Irina dauert die Leidenszeit länger. Am 11. Juli 2003 bekommt sie in Berlin die Stammzellen übertragen, die Tim Vosgröne am gleichen Tag in Hameln gespendet hat. Die Stammzellen fließen durch einen Schlauch am Hals in ihren Körper, wie ein Medikament. Es ist keine spektakuläre Transplantation wie bei einer Niere, die Prozedur erinnert eher an eine Blutübertragung. Danach verbringt Irina 200 Tage auf der „Life-Island“. Von Station 39 sieht sie in dieser Zeit nur weiße Wände, zwei Doppeltüren, einen Computer und einen Fernseher. „Ich konnte nicht rausgehen, die Fenster waren zu“, erinnert sie sich. „Ich bekam sehr wenig Besuch. Alle mussten Mundschutz und Kittel tragen.“

Die ersten zwei Wochen nach der Transplantation sind eine kritische Phase. Fangen die neuen Zellen an, ihren Job zu machen? In dieser Zeit, in der das Immunsystem zerstört ist, kann die leichteste Infektion tödlich sein. Die Betroffenen bekommen nur abgekochtes Essen und Medikamente gegen die Schmerzen. „Die Patienten leiden am meisten in der Phase, in der die Zellen weg sind. Etwa unter Schluckbeschwerden, weil die weißen Blutkörperchen fehlen – und die sind ein wichtiger Schutz für die Schleimhäute“, sagt Ebell. „Wir geben deshalb meist Morphin, um die Schmerzen zu lindern.“ Nach 200 Tagen darf Irina zurück nach Hause. Schritt für Schritt geht sie auch wieder nach draußen. Zehn Minuten mit Mundschutz, dann fünfzehn, später eine halbe Stunde. „Die Leute in der U-Bahn hatten Angst, dass ich eine ansteckende Krankheit habe. Aber rauszukommen war ein Gefühl, wie neu geboren zu werden.“

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„Rauchen Sie?“, fragt mich die Ärztin. Es ist kurz vor Weihnachten, ich sitze in einem weißen Sprechzimmer, vor einem großen Schreibtisch. Hier, in einem Gebäude der Uniklinik in Dresden, finden Stammzellspenden und die dazugehörigen Voruntersuchungen statt. Weihnachtsschmuck fehlt, dafür hängt an der Wand im Flur eine Deutschlandkarte, auf der jeder Spender seinen Heimatort mit einem Fähnchen markiert hat. Zwei Wochen später gibt es auch ein Fähnchen in Olsberg. Meins.

Für die Nacht vor der Untersuchung hat mich die DKMS in einem schicken Hotel untergebracht: Elbnähe, Abendessen, Reisekosten inklusive. Bei der Voruntersuchung prüft mich die Ärztin auf Herz und Nieren: EKG, Ultraschall, ein Fragebogen. Am Ende überreicht sie mir ein Päckchen. „Darin finden sie zehn Spritzen“, sagt sie. „Die müssen Sie sich in den fünf Tagen vor der Spende geben, morgens und abends. Ich zeige Ihnen, wie Sie es machen.“

Stammzellen werden im Knochenmark produziert. Um sie zu spenden, gibt es zwei Möglichkeiten: Die so genannte Knochenmarkspende, bei der unter Vollnarkose der Beckenknochen punktiert wird und der Spender drei Tage im Krankenhaus liegt. Und die ambulante Stammzellspende, bei der die Stammzellen aus dem Blut abgeschöpft werden. Damit die Zellen aber aus dem Knochenmark überhaupt ins Blut gelangen, muss sich der Spender in den Tagen vor der Spende einen Wachstumsfaktor spritzen. Schmerzfrei unter die Haut, wie ein Diabetiker. Ob Knochenmark oder Stammzellen entnommen werden, entscheiden Ärzte und Spender gemeinsam. Je nach Art der Leukämie kann die eine oder die andere Methode einen günstigeren Heilungsverlauf versprechen.

Am Tag vor Silvester fange ich mit dem Spritzen an. Der erste Stich in den Bauch ist der schlimmste, mit der Zeit wird es Routine. Dass das Mittel wirkt, merke ich an Gliederschmerzen: Das Knochenmark wird durch den Wachstumsfaktor angeregt, mehr Stammzellen zu produzieren und diese ins Blut auszuschwemmen. Nachts im Bett komme ich mir vor wie eine Mensch-Maschine. Die Produktion läuft an. Mein Rücken fühlt sich an, als hätte ich den ganzen Tag Steine geschleppt. Wie es meinem Patienten wohl geht? In fünf Tagen ist die Spende.

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Das Café Cortez, im Westen Berlins, im Februar 2006. Wenn sich zwei wildfremde Menschen um den Hals fallen, ist man entweder im Stadion, und gerade ist ein Tor gefallen, oder es ist ein ganz besonderer Moment. „Ich habe heute Nacht von dir geträumt“, sagt Irina, 18, nachdem sie Tim, 35, wieder losgelassen hat. „Aha, und wie sah ich aus?“, fragt der.

Es ist das erste Treffen der beiden. Vor einer Woche kannten sie noch nicht mal den Namen des anderen, auch telefoniert haben sie noch nie. Erst nach zwei Jahren dürfen sich Spender und Patient kennen lernen, so bestimmen es die Regeln der DKMS. Erst dann ist klar, ob der Patient überlebt oder einen Rückfall erleidet. Vorher bleiben sie anonym. Acht Monate nach seiner Spende bekam Tim einen Brief mit der Nachricht, dass es seiner Patienten gut gehe. „Der hängt heute noch an meinem Kühlschrank“, sagt er.

„Du bist jetzt mein Backup“, sagt Tim, und Irina lacht. Nach der Transplantation hat ihr Blut Tims Blutgruppe angenommen, denn es wird seither von seinen Stammzellen produziert. „Was hast du für Hobbys?“, will Tim wissen. „Ich tanze gerne“, sagt Irina und schaut Tim fragend an. Der schüttelt den Kopf. „Seit der Transplantation esse ich gern Fisch“, fährt sie fort, „wir waren in der ersten Zeit nach dem Krankenhaus einmal pro Woche Sushi essen, obwohl das eigentlich für mich verboten war.“ – „Fisch mag ich nicht“, sagt Tim, und beide lachen.

Dass ein Mensch für einen Leukämiekranken aus einer anderen Ecke der Welt die passenden Stammzellen hat, ist selten. „Die Gewebemerkmale sind regional unterschiedlich“, sagt DKMS-Mitarbeiterin Silvia Marcello, die das Treffen im Café Cortez koordiniert hat. „Türken haben zum Beispiel meist andere Gewebemerkmale als Deutsche. Man würde für einen türkischen Patienten kaum eine Spender unter Deutschen finden können. Deshalb sprechen wir mit speziellen Typisierungsaktionen gezielt türkische Mitbürger an, damit auch diese Patienten eine Chance haben.“ Dass eine Tatarin und ein Westfale „genetische Zwillinge“ sind, sei fast schon ein kleines Wunder. „Vielleicht haben Sie ja Vorfahren in Westfalen?“, fragt Frau Marcello Irina. „Mein Opa war mal in Russland“, sagt Tim ironisch.

Irina erzählt, dass sie Physiotherapeutin werden und später vielleicht noch Modedesign studieren will. Sie geht auf eine russisch-europäische Schule in Berlin, wohnt inzwischen allein in einer eigenen Wohnung. Seit ihrer Krankheit sei sie nicht mehr so kontaktfreudig wie früher, sagt sie, und blickt schüchtern in die Runde. Das Gespräch beim Kaffee ist leicht angestrengt. Was sagt man einem Fremden, der einem das Leben gerettet hat? Wie begegnet man einer Unbekannten, die ohne einen vielleicht nie achtzehn geworden wäre?

Die Spende an sich sei harmlos gewesen, sagt Tim. Nur die Nebenwirkungen der Spritzen habe er gespürt: „Ich hatte das Gefühl, als hätte ich am Abend Sport getrieben, anschließend viel getrunken und die Nacht in der Turnhalle geschlafen.“ Nach der Spende war er erschöpft, aber das sei eine „zufriedene Erschöpfung“ gewesen. Später erzählt er etwas Persönliches, das ihn beim Treffen mit Irina bewegt hat: „Ich habe drei Familienmitglieder durch Krebs verloren, darunter meine Mutter. Für mich war die Spende auch eine Möglichkeit, dem Krebs mal richtig in den Arsch zu treten.“

Später, als die Berliner Wintersonne schon hinter den Häusern versunken ist, verlassen zwei Menschen das Café Cortez, der eine aus Tatarstan, der andere aus Westfalen. Sie wollen einen Spaziergang durch den Schlosspark Charlottenburg machen, sich kennen lernen, später essen gehen, Sushi. Dass einer von beiden keinen Fisch mag, ist an diesem Abend ganz unwichtig.

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Das Hotel, in dem ich in Dresden untergebracht bin, heißt „Am blauen Wunder“; seinen Namen verdankt es einer nahen Elbbrücke. Ich bin am Abend angekommen, die Spende soll um acht Uhr früh beginnen. Zum Frühstück gibt es acht verschiedene Sorten Müsli und die Sächsische Zeitung. Ich solle ausgiebig frühstücken, hat mir die Ärztin bei der Voruntersuchung geraten. Schließlich gebe es vier Stunden lang nichts zu essen. Irgendwo auf der Welt liegt jetzt ein Mensch in einer „Life-Island“, der zufällig dieselben Blutmerkmale hat wie ich. Zum Frühstück bekommt er vermutlich nur Abgekochtes.

In dem weißen Zimmer in der Uniklinik spritze ich mir zum letzten Mal das Mittel, das meinen Körper zur Produktion von Stammzellen anregen soll, und setze mich bequem in einen Krankenhaussessel. Die Ärztin, die ich schon von der Voruntersuchung her kenne, schließt mich an die Apherese an. Die Prozedur beginnt.

Alle paar Minuten, wenn mein Blutdruck sinkt, piept die Maschine. Dann muss ich den Knautsch-Erdball drücken, damit die Spende weitergeht. Schwester Michaela muss kommen, eine Taste drücken, und das Blut läuft weiter in die Zentrifuge. Sie hat an diesem Morgen zwei Spender zu betreuen, sie bringt Getränke, fragt, ob auf dem Kopfhörer das Fernsehprogramm laut genug sei oder ob man lieber ein Video sehen möchte, und kontrolliert ständig den Pegelstand im Stammzellenbeutel. In einer Viertelstunde sei bestimmt alles vorbei, sagt sie zum x-ten Mal. Im Fernsehen springt jemand von einer Schanze in den Schnee. Es piept.

Als die Apherese eine Stunde später wirklich vorbei ist, gebe ich Schwester Michaela die blaugrüne Weltkugel zurück. Irgendwo auf der Erde wartet jetzt ein Mensch auf meine Zellen. Ein Kurier steht im Flur mit einer Kühltasche bereit. Er wird den Stammzellenbeutel mit in ein Flugzeug nehmen und später einem Arzt aushändigen. Der wird den Beutel in ein „Life-Island“ bringen und die Stammzellen seinem Patienten übertragen. Und der wird ihre Krankheit wahrscheinlich besiegen. Die Chance ist 60:40.

MICHAEL AUST, 27, ist freier Autor und lebt in Köln. In zwei Jahren würde auch er gerne „seinen“ Patienten kennen lernen