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Archiv-Artikel

Aysels Grenzen

THEATERFILM Für „Hochburg der Sünden“ beobachtete Thomas Lauterbach die Proben eines Chors türkischstämmiger Frauen am Schauspiel Stuttgart

Sie war schon fast ausgestiegen aus dem Projekt, als Theaterlaie an der Inszenierung der „Medea“ am Schauspiel Stuttgart teilzunehmen; da kehrt Aysel Kilic noch einmal, begleitet von einem Filmteam, zurück: an die „Hochburg der Sünden“ wie Aysel sagt, die fürchtet, sie habe wohl den „Teufel in sich“.

Eine „Hochburg der Sünden“ hat das Theater schon lange niemand mehr genannt. Aus dem Mund von Aysel, die gottesfürchtig und ohne Verstoß gegen die Gesetze ihres muslimischen Glaubens leben will, klingt es fast wie ein Kompliment wider Willen, bedeutet ihre Rückkehr doch einen Regelverstoß.

Der Film „Hochburg der Sünden“ entstand 2006/2007, als der Theaterregisseur Volker Lösch für eine „Medea“-Inszenierung in Stuttgart einen Chor türkischstämmiger Frauen suchte. Unter den vielen interessierten Frauen war Aysel Kilic die einzige Kopftuchträgerin. Sie kam, wie man sie anfangs aus dem Off erzählen hört, aus Langeweile; Mutter und Hausfrau, ohne Ausbildung, aus dem 30 Kilometer von Stuttgart entfernten Nürtingen. Für Thomas Lauterbach, den Filmregisseur, der die Entstehung des Chors bei den Proben begleitete, stellten sich ihre Gespräche mit den anderen Frauen schließlich als das spannendste Material heraus.

Denn unter den 16 Frauen des Laienchors ist sie die einzige, die nicht mit dem Bild einverstanden ist, das vom Leben türkischer Frauen auf der Bühne vermittelt wird. Volker Lösch hat alle Mitspielerinnen aufgefordert aufzuschreiben, ob sie Druck oder Gewalt in der Familie erfahren haben, und aus diesen teils bejahenden, teils verneinenden Protokollen entsteht der Text des Chors. Aysel sieht darin nur eine falsche Bestätigung der Klischees, die Deutsche von Türkinnen haben.

Nichts davon entspricht ihrem eigenen gut funktionierenden Leben. Ihre Mitspielerinnen hingegen, die großenteils gebildet, emanzipiert und selbstbewusst wirken, erzählen von Demütigungen als Frauen, gegen die sich wehren mussten. Aysel schüttelt den Kopf, die Sache gefällt ihr nicht, sie streitet sich mit den anderen und meint einmal, ihr Abweichen von den traditionellen Lebensregeln hätte ihnen wohl diese Schwierigkeiten eingebracht. Aysel zu überzeugen, dass sie unrecht hat, scheint schließlich das Ziel der intensiv diskutierenden Gruppe. Und damit trägt sie wesentlich zu der Leidenschaft bei, mit der sich ihre Kontrahentinnen für das Projekt einsetzen.

Der Eindruck von der Arbeit des Regisseurs Volker Lösch, der das Verkuppeln von klassischen Theatertexten mit Realitätsschnipseln der Gegenwart immer wieder übt, ist zwiespältig. Deutlich wird, dass er schon beim Casting der Laienchöre genaue Vorstellungen hat, nach welchen Erfahrungen er sucht. Pauschalisierende Bilder werden zwar teils durch den Reichtum der unterschiedlichen Stimmen abgebaut, durch die Richtung seiner Fragen aber bestätigt.

Erstaunlich aber, wie sein Glaube an die kathartische Wirkung des Theaterspiels auf die meisten Chorfrauen funktioniert. „Spielen reinigt, es wirkt befreiend“, verspricht er beim Casting, und nicht wenige seines Medea-Teams erleben das Sprechen über ihre Vergangenheit und die Form, die das auf der Bühne annimmt, als persönliche Erleichterung und Stärkung.

Trotzdem ist es gut, dass Thomas Lauterbach die größte Kritikerin von Löschs Methode zu seiner Protagonistin gemacht hat. Im Theater, stellt Aysel einmal fest, sollen immer Grenzen überschritten werden; sie aber brauche ihre Grenzen und wolle sie nicht überschreiten. Deshalb berührt, wie sie allen Zweifeln zum Trotz bleibt und so anderen den Blick über die eigenen Grenzen erlaubt. KATRIN BETTINA MÜLLER

■ „Hochburg der Sünden“. Buch/Regie: Thomas Lauterbach. Mit Aysel Kilic u. a. D 2008, 79 Min.