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Archiv-Artikel

Fremdheit dringt in die Malerei

POINTILLISMUS Mit Siebenmeilenstiefeln aus dem heiteren Raum der bürgerlichen Gesellschaft heraus in die Moderne: In Kooperation mit dem Kunsthaus Zürich zeigt die Frankfurter Schirn eine große Retrospektive des französischen Neoimpressionisten Georges Seurat

Seit 30 Jahren ist laut Max Hollein das Oeuvre von Seurat in Deutschland nicht ausgestellt worden

VON ANGELA HOHMANN

Als hätte er gewusst, wie wenig Zeit ein kurzes Leben für ein großes Werk lässt, kehrte Georges Seurat, der Begründer des Pointillismus, dessen Gemälde unwiderruflich den Weg in die klassische Moderne wiesen, dem Akademismus schon früh den Rücken und begab sich auf die Suche nach seinem eigenen Stil. Nur ein Jahr lang, von 1878 bis 1879, besuchte er die École des Beaux-Arts in Paris, wo er von einem Ingres-Schüler unterrichtet wurde. Der Besuch der vierten Impressionisten-Ausstellung 1879 in Paris hatte die Wirkung eines „unerwarteten und heftigen Schocks“ auf den jungen Künstler, und besonders die dort präsentierten Gemälde von Claude Monet (1840–1926) und Camille Pissaro (1830–1903) beeindrucken den Zwanzigjährigen so nachdrücklich, dass er fortan eigene Wege beschritt.

Das Ergebnis dieser Suche präsentiert zurzeit die Schirn Kunsthalle in Frankfurt. Seit 30 Jahren ist laut ihrem Direktor Max Hollein das Oeuvre von Seurat in Deutschland nicht ausgestellt worden, jetzt widmet sein Haus dem französischen Neoimpressionisten in Kooperation mit dem Kunsthaus Zürich eine großangelegte Retrospektive mit etwa 60 Werken – Zeichnungen, Skizzen in Öl und Ölgemälde, darunter dank einer großzügigen Leihgabe des Pariser Musée d’Orsay Seurats letztes Großformat, „Le Cirque“ von 1890/91, eines der Hauptwerke des Pointillismus, in dem der Künstler nicht nur seine neue Malmethode voll entfaltet, sondern auch die Figurendarstellung extrem stilisiert. Beeinflusst von der damals aufkommenden Werbegrafik auf Plakaten nimmt er die Abstraktion nachfolgender Kunstströmungen vorweg.

Der Weg des Malers zum Pointillismus ist in der chronologisch gehängten Ausstellung „Georges Seurat. Figur im Raum“ gut nachvollziehbar. Auf tiefblauen Wänden wechseln sich, pointiert ausgeleuchtet, malerisch wirkende Zeichnungen in weichem Kreidestift mit Farbstudien in Öl ab. Zwischen „Tête de jeune fille“ (1877 bis 1879) und „Un Dimanche à la Grande Jatte“ (1884/84), das seinen Maler auf einen Schlag berühmt machte, liegt ein gewaltiger Sprung: der vom Impressionisten zum Neoimpressionisten, der sich deutlich von seinen gut zwanzig Jahre älteren Vorgängern absetzte – im Malstil und in der Motivgestaltung. „Mit Seurat“, so sinniert der Autor Wilhelm Genazino im Katalogtext, „dringt die Fremdheit in den Impressionismus ein – die Distanz, die Differenz, das Erschrecken“ – also das Gefühl der Zerrissenheit in der Moderne. Seine Figuren stehen isoliert im Raum, zeigen nicht mehr die heitere bürgerliche Gesellschaft der impressionistischen Gemälde von Künstlern wie Renoir, Monet und Pissarro.

Zu Hauptwerken wie „Une Baignade, Asnières“ (1883) und „Un Dimanche à la Grande Jatte (1884/84) sind Vorstudien zu sehen, die Seurats Vorgehen verdeutlichen: Im Freien sammelte der Maler mittels Zeichnungen oder impressionistischen Ölskizzen auf hölzernen Täfelchen, die in die unter Freilichtmalern beliebten handlichen Holzfarbkästen passten, seine Motive. Im Atelier schuf er aus so gesammelten Versatzstücken die Gesamtkomposition und arbeitete sie nach dem ihm eigenen Malstil um: Punkt an Punkt entwickeln sich in mühsamer Kleinstarbeit die Motive aus einzelnen Farbtupfern, die sich erst im Auge des Betrachters zu dem gewünschten Farbeindruck mischen. Grundlage für diesen Stil war die intensive Auseinandersetzung Seurats mit der Farb- und Wahrnehmungslehre des 19. Jahrhunderts sowie das Studium der Komplementärfarbenverwendung bei Eugène Delacroix.

Neben der Aufarbeitung des gleichwertig neben dem malerischen Oeuvre sich entwickelnden zeichnerischen Werkes und den vielen kleinformatigen Ölskizzen sticht vor allem eine zu den späteren Gemälden zählende Gruppe von Seebildern hervor, zu denen Seurat auf seinen Sommerurlauben an der normannischen Küste inspiriert wurde. Nahezu immer menschenleer setzen sich die Motive – ein Hafen, ein Strand, ein Leuchtturm – aus unzähligen flirrenden Punkten zusammen. Nur schade, dass aufgrund der Empfindlichkeit der großformatigen Gemälde nicht mehr von den sechs Hauptwerken aus aller Welt zusammengetragen werden konnten. Von den Großleinwänden wie etwa „Un Dimanche à la Grande Jatte“ (1884/86), „La Parade de Cirque“ (1887/88) und „Le Cirque“ (1890/91) ist nur Letztere zu sehen – für eine Retrospektive ein wenig dünn. Angesichts einer Schaffensperiode von nur zehn Jahren, in der ein schmales Werk entstand, ist das zusammengetragene Material jedoch beachtlich. Mit 31 Jahren verstarb Seurat überraschend am 29. März 1891 an Diphtherie.

■ Bis 9. Mai, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Katalog (Hatje Cantz Verlag) 29,80 €