: Gott des Stinkefingers
Der Effenberg von Myanmar: Buddhas Finger weist den Weg zum Pfad der Erleuchtung
Seit ein paar hundert Jahren steht der Buddha schon da und zeigt dem Vorübergehenden seinen linken Mittelfinger. Er steht im Goldland Myanmar, in der alten Stadt Bagan, am Rande des Mahabodi-Tempels, der von König Nadaungmya errichtet wurde, ungefähr 1.250 nach Christus. Der Buddha ist dort bloß einer von 450 Buddhareliefs und -statuen. Aber nur dieser eine Buddha „flips the bird“, wie der Amerikaner sagen würde.
Was will uns aber der Buddha damit sagen? Wir wissen es nicht, denn die alten Schriften geben genauso wenig Auskunft, wie die neuen, zum Beispiel das Internet. Dabei ist die Bedeutung dessen, was ein Buddha so alles mit der Hand macht („Mudras“), ganz klar festgelegt. Doch diese Geste ist keine der Ermutigung („Abhaya“), auch keine der Lehrdarlegung („Vitarka“), keine „Tarjana“ (Drohgeste = erhobener, gegen den Gegner gerichteter Zeigefinger), ist weder „Karana“ noch „Tarpana“ oder sonst was.
Aber nicht nur wir tappen im Dunkeln, auch der Buddha hat keine Ahnung. Er steht nur da und weiß nicht, dass das, was er da tut, heutzutage sehr teuer ist. Er hat noch nie was von Stefan Effenberg gehört, der wegen eines gestreckten Mittelfingers von der Fußballweltmeisterschaft ausgeschlossen wurde. Er kennt weder Fatmir Vata vom DSC Arminia Bielefeld noch den französischen Skirennläufer Pierre-Emmanuel Dalcin, die wegen eben desselben Fingerreckens 4.000 Euro beziehungsweise 5.000 Schweizer Franken abdrücken mussten. Ihm ist auch nicht die Entscheidung des Arbeitsgerichts Frankfurt (AZ: 6 Ca 11145/02) geläufig, wonach „das Zeigen eines ,Stinkefingers‘ eine beleidigende Geste“ ist, die kein Vorgesetzter hinnehmen muss, weswegen auch eine Abmahnung rechtens sei.
Der Buddha muss mit keiner Abmahnung rechnen. Er steht da und reckt einfach jedem, der vorübergeht, den Finger entgegen.
Vielleicht hat sein Fingerzeig etwas mit Erleuchtung zu tun? Immerhin ist der Mahabodi Paya die Kopie eines gleichnamigen Tempels, der in Bhodgaya in Indien an der Stelle steht, wo Prinz Siddharta nach sechs Jahren der Meditation und Askese einst zum Buddha wurde. Vielleicht. Der Buddha gibt uns jedenfalls keine Antwort. Er steht einfach nur weiter so da und lässt stolz die Sonne auf seinen Mittelfinger scheinen.
Er steht da, steht und steht und weiß auch nicht die Bohne von den Wissenschaftlern, die über den gereckten Mittelfinger forschen. Er hat noch nie vom britischen Verhaltensforscher Desmond Morris läuten hören, der in seinem Buch „Gestures: Their Origins and Distribution“ darauf verweist, dass ein eben solcher Mittelfinger als „digitus impudicus“ (schamloser Finger) bereits im alten Rom bekannt war. Er weiß nicht, dass Morris Martial zitiert, der schrieb: „Lache laut, Sextillus, wenn dich jemand eine Königin nennt und seinen Mittelfinger ausstreckt.“ Und er las auch kein Wort des Historikers Suetonius, der beschreibt, wie Kaiser Augustus den Schauspieler Pylades aus dem römischen Reich hinauswarf, weil der dem Publikum im Zorn seinen Finger entgegenschleuderte. Das alles interessiert den Buddha nicht, denn er ist ein Buddha und macht mit seinem Finger, was er eben gern möchte. Ihm ist selbst das Internet völlig schnuppe. Da wird bei Wikipedia darüber diskutiert, ob denn ein Stinkefinger, deshalb ein so schlimmer sei, weil er von den Ärzten zur Rektaluntersuchung benutzt wird. Der Buddha kennt auch keine Arbeitsstelle für Semiotik an der TU Berlin, die seit über zehn Jahren Gestenforschung betreibt, zum Glück nicht von seinen Steuergeldern. Er weiß nichts von dem hier forschenden Professor Reinhard Krüger, der als Gestenetymologe viel davon erzählt, wofür der „digitus impudicus“ im Laufe der Geschichte so alles stand, zum Beispiel für „Mit dem Mittelfinger einen Phallus machen.“ Dem Buddha ist das wurscht, er ist halt Buddha. Er steht da und streckt uns immer bloß sein Lieblingskörperteil entgegen.
Der Buddha muss wirklich nichts von Professor Krüger wissen. Doch der Professor sollte unseren Buddha kennen. Vielleicht würde das seinen Forschungen auf die Sprünge helfen, die uns – wir mögen uns irren – doch allzu sehr im abendländischen Kulturkreis verhaftet scheinen.
Auch die Herren Effenberg, Vata und – gerade eben bei den Olympischen Winterspielen – Dalcin sollten unseren Buddha mal gesehen haben. Wer könnte sie noch sperren und ihnen Geld abknöpfen, entgegneten sie ihren Richtern, da das, was sie machten, auch ein Buddha tut? Welcher Chef würde es noch wagen, uns abzumahnen, welcher Polizist Bußgeld zu kassieren, wenn wir erklärten, wir folgten nur dem Buddha auf dem Pfade der Erleuchtung? Vielleicht ist es das, was der Buddha von Bagan uns sagen will beziehungsweise zeigen, schon seit ein paar hundert Jahren. Stinkefingerzeiger dieser Welt, macht bitte weiter so! CHRISTIAN Y. SCHMIDT