„Ich vertraue auf die Schönheit“

Ein Gespräch mit der australischen Schriftstellerin Shirley Hazzard über Ängste, die produktive Verzweiflung beim Schreiben und ihren 2003 mit dem National Book Award ausgezeichneten, jetzt auf Deutsch vorliegenden Roman „Das große Feuer“

INTERVIEW SOPHIE ALBERS

taz: Frau Hazzard, Sie sind in Sydney aufgewachsen, folgten als 15-Jährige Ihren Eltern kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs nach Hongkong und sammelten dort bald für den Britischen Geheimdienst Informationen über den chinesischen Bürgerkrieg. Dann gingen Sie nach New York zur UNO, schließlich nach Neapel, wo sie beschlossen, Schriftstellerin zu werden. Haben Sie vor irgendetwas Angst?

Shirley Hazzard: Als ich noch sehr jung war, hoffte ich, wie so viele Mädchen, dass irgendjemand kommen und mich retten würde. Doch dann erkannte ich, dass ich erst einmal mich selbst retten muss. Als junges Mädchen hatte ich vor vielen Dingen Angst, doch ich habe gelernt, je mehr Angst man vor etwas hat, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es passiert. Nach all dem Leid, das ich erfahren habe, hatte ich nichts zu verlieren. Das Schreiben war so nicht geplant, aber etwas trieb mich an, diese erste Geschichte zu schreiben.

Die sie an den „New Yorker“ schickten, und die auch gleich gedruckt wurde.

Etwas in mir hat sich gegen dieses scheinbar vorbestimmte Schicksal gesträubt. Italien half mir, die Sache mit dem Schreiben anzunehmen. Dazu waren die schlimmen Dinge gar nicht nötig. Natürlich habe ich Ängste wie jeder andere – vor einem Unfall, Krankheit. Doch seit dem Tod meines Mannes, habe ich niemanden, der mir wirklich nah ist – obwohl ich wundervolle Freunde habe. Kinder waren geplant, aber es kamen keine. Also muss ich in diesem Sinn um niemand Angst haben.

„Das große Feuer“ erzählt von einer Liebesgeschichte zwischen einem Kriegsveteranen und einem jungen Mädchen. Vor allem der Ton macht den Zauber Ihres Buches aus. Woher kommt dieser Ton?

Oh, so lange ich denken kann, habe ich Gedichte geliebt, diese Töne, diese geheimnisvolle Anziehungskraft. Aber ich glaube, wir sollten nicht immerzu versuchen, das zu erklären. Die Welt versinkt in Erklärungen, und nicht viele davon führen besonders weit oder machen uns glücklicher. Später war es die physische Schönheit von Dingen: die Schönheit Italiens, die Schönheit des Lichts. Doch auch diese Wahrnehmung war von der Poesie geprägt. Das Schönste was einmal über mein Schreiben gesagt wurde, war, dass ich eine Autorin sei, die von Schönheit besessen ist und sich dafür nicht entschuldigt. Es gab Zeiten, in denen galt es als sentimental und passé, von Schönheit berührt zu sein. Doch ich habe immer darauf vertraut, dass sich die Schönheit behauptet.

Zuweilen erinnert Ihr Buch an Virginia Woolf und deren Satz: „Gestalte deine Worte so, dass sie die dünnste Hülle für deine Gedanken sind.“

Richtig. Das versuche ich. Fast körperlich ist die Anstrengung, ein Wort für ein Gefühl, einen Gedanken zu finden. Manchmal muss man Worte dafür fast neu schöpfen, muss man den Platz dieses Wortes innerhalb des Satzes neu erfinden. Und es ist ein Vergnügen, wenn man dieses Wort findet– und eine Erleichterung. Es gibt eine wichtige Verbindung zwischen den heutzutage auftretenden Depressionen und Ängsten und dem Verfall der Sprache. Die Menschen fühlen, dass sie etwas in sich tragen, das sie nicht mitteilen können. Es war besser, als sie es mit Hilfe der Literatur teilen konnten. Sie konnten Worte mit anderen Autoren und Lesern teilen, und diese Erfindungsgabe konnten sie in sich selbst entwickeln.

Ist das heute nicht mehr so? Glauben Sie, dass die Literatur verloren zu gehen droht?

Ja, und es ist ein enormer Verlust, in allen humanistischen Bereichen! Es gibt mehr Bücher als je zuvor, aber was lesen junge Leute heute? Es reicht nicht, irgendwas zu lesen, dazu gibt es zu viel Müll. Dass ein junger Mensch heutzutage spontan eine Gedichtzeile zitieren kann, ist eine Seltenheit. Als ich jünger war, haben die Leute Zeilen sofort erkannt. Sie mussten nicht mal sagen, dass sie sie kennen. Es ist ein Vergnügen, Ideen zu teilen, die so großartig formuliert wurden.

Sie sind also der festen Meinung, die junge Generation leide unter ihrer Erwartung, glücklich zu sein?

Ja. Wir wurden damals nicht dazu ermutigt, auf ein glückliches Leben zu hoffen. Zudem gab es auch nicht diese überall glücklich von einer Werbetafel runtergrinsenden Gesichter. Oder wenn es sie gab, sahen wir das Leben nicht so, wir hielten das für einen Witz. Ich will die Vergangenheit nicht verklären, aber etwas Grundlegendes ist verloren gegangen: menschliche Zuneigung, der Ausdruck dessen.

Wie ist es dazu gekommen?

Vieles hat dazu beigetragen: das Fernsehen, die Massenkommunikation. Das hat Vorteile gebracht, aber es gibt eben auch Verluste. Das Seltsame ist, dass all die schrecklichen Dinge der Vergangenheit im Kontext einer anderen Erwartung geschehen sind. Es gab lange Zeit nicht diese Endzeitstimmung. Niemand hat an Waldsterben, globale Klimaerwärmung oder Überbevölkerung gedacht. Das ist neu. Oder Waffen, die eine Stadt in Sekunden zerstören können, wie im August 1945 in Hiroschima. Das alles scheint unsere Energie aufzusaugen, und wir denken, wir können eh nichts ändern.

Die Atmosphäre von Hongkong hat in Ihrem Roman etwas Traumhaftes, man schwebt geradezu durch das Geschehen.

Nach dem Abschied von Hongkong hatte ich innerlich Fotografien meiner Erlebnisse dort angefertigt. Ich musste keine Details recherchieren, ich wusste, wie es war, kannte das Aussehen der Straßen, das Licht der Stadt.

Die Liebesgeschichte hat ein reales Vorbild: Sie waren damals in einen britischen Soldaten verliebt. Doch Ihre Eltern beendeten die Beziehung, für sie „ein Massaker“. Sind Sie nach Hongkong zurückgekehrt?

Nein, zum einen, weil ich kein Geld hatte. Aber auch weil ich wusste, dass ich eines Tages darüber schreiben würde. Ich wollte nicht zurückgehen, bevor ich es aufgeschrieben hatte, weil ich sonst die Atmosphäre in meiner Erinnerung verloren hätte.

Wie viel Autobiografie steckt denn in „Das große Feuer“?

Ich mag es, Dinge zu erfinden, mir die verschiedenen Facetten von Personen auszudenken. Wenn man Menschen beschreibt, kann der Leser deren Beweggründe häufig nicht nachvollziehen, dann fügt man ein bestimmtes Geschehnis ins Leben eines Charakters ein, und es passt. Manchmal tut die Person auch etwas, was gar nicht geplant war, aber konsequent ist, weil der Charakter realer geworden ist.

Es gibt Kritiker, die Probleme mit manchen Figuren und deren Entwicklung hatten.

Manche Leute wollen einfach Ärger machen (lacht), säen Missgunst zwischen dem Autor und seinen Charakteren. Ich wollte das Ende so, ich weiß nicht, wie es danach weitergeht. Aber ich wollte, dass sie Hoffnung haben, das ist der Sinn des Buches! Der Mann versucht, mit den schrecklichen Dingen, die er gesehen hat, fertig zu werden – und damit repräsentiert er Millionen, die versucht haben, nach all der Zerstörung, der Angst und dem Tod ihr Privatleben wieder herzustellen. Das ist ein Grund, warum er sich zu diesem „frischen“ jungen Mädchen hingezogen fühlt. Auch sie hat Schreckliches erlebt, aber sie gehört nicht in dieses Gesamtbild der Zerstörung.

Sie haben gesagt, dass für Sie der Zustand des Schreibens etwas sei, für das andere Menschen Unsummen Geld bezahlen, um es loszuwerden.

Beim Psychologen, ja! Die Erschöpfung, die das Schreiben einer Seite mit sich bringt, ist immer sehr eigen, manchmal zum Verzweifeln. Doch die Verzweiflung wird mit der Zeit weniger. Man begreift, dass die Seite, die man nicht füllt, halt leer bleibt, und dass die Seite, die man verwirft, weil sie einem nicht gefällt, irgendwo hin führt in diesem Mix aus Bewusstem und Unbewusstem. Das ist das einzig Ermutigende an diesen Tagen der Verzweiflung. Die Briefe Flauberts aus der Zeit der Entstehung „Madame Bovarys“ sind ein großartiger Einblick in das Leben eines Autors. Details wie die Beschreibung, wie er einen einzelnen Absatz zusammengestellt hat, bis er „richtig“ war. Und der Triumph und die Erleichterung, die er fühlte, aber dann stellt er fest, dass das Hinzufügen von etwas anderem es noch bereichern würde, ein anderes Thema, das aber die Symmetrie dieser Passage zerstören würde. In einem der Briefe sagt er, dass er das Leid aber auch genieße. Da heißt es ungefähr: „Heute habe ich meine Liebenden auf einen Ausflug mitgenommen. Ich war das Pferd, das sie ritten, ich war ein Baum in dem Wald, den sie durchquerten, ich war das Licht, das durch die Äste fiel. In dieser Schönheit war ich die Sonne, die sie ihre liebestrunkenen Augen schließen ließ.“ Wunderschön, nicht?