Akustische Graffiti

Der Ghettoblaster ist wieder da. Getarnt als MP3-Handy erobert er derzeit jeden Winkel, klein und quengelnd

Der Ghettoblaster ist wieder auferstanden, nicht als großes, tragbares Audiogerät mit Wiedergabefunktionen für Kassette und Radio mehr, sondern als Handy mit MP3-Player und Lautsprechern, um unter Umgehung einer ebenfalls möglichen Kopfhörernutzung raumgreifend in öffentlichen Verkehrsmitteln zum Einsatz zu kommen.

„Aus dem Walkman tönt es grell, den Nachbarn juckt’s im Trommelfell“, mit diesem Spruch versuchte man früher, den Lärmmüll in Bussen und Bahnen einzudämmen. Die aus den Kopfhörern entweichende Geräuschabwärme vernahm sich jedoch im Vergleich zu den polyphonen Soundkulissen, die heutzutage versendet werden, total harmlos aus. Die juvenilen, informellen Klanginstallationen im öffentlichen Raum können Mitreisenden den letzten Nerv rauben, vor allem aufgrund ihrer individualisierten Gestaltung: Befinden sich beispielsweise zwei jugendliche Gruppen im Waggon, ist mit dem Einsatz von mindestens drei verschiedenen Soundfiles zu rechnen: gleich ob Tokio Hotel oder Eminem. Hatte früher der Eigner des meist einzeln auftretenden Ghettoblasters die Hoheit über Musikauswahl, bestimmt heute jeder Jugendliche selbst, was läuft – wobei die meisten integrierten Lautsprecher über ein übersteuertes Scheppern nicht hinauskommen.

Es handelt sich um eine mitunter verstörende Performanz, soziales Handeln, das zwar für die jugendlichen Akteure subjektiv mit Sinn verbunden scheint, für unbeteiligte Zeitungsleser jedoch nicht. Die Hirnforschung etwa böte einen ganz einfachen Erklärungsansatz für dieses tendenziell asoziale Verhalten: Die Frontallappen der Heranwachsenden, Sitz des sozialen Kompetenzzentrums, sind noch nicht ordnungsgemäß zusammengewachsen. Will sagen: Sie wissen nicht, was sie tun. Psychologisch betrachtet handelt es sich lediglich um eine durch technischen Fortschritt bedingte Variante jugendlicher Musikanwendung. Durch lautes Musikhören möchten sich Jugendliche zum einen von ihrer sozialen Umwelt abgrenzen, zum anderen innerhalb ihrer Peer-Group kommunizieren. Die Musik wird zum Soundtrack der Gang, die ihren Platz im öffentlichen Raum behauptet, es handelt sich um akustische Graffiti. Ohrstöpsel aus der Apotheke sind hilfreich.

MARTIN REICHERT