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Archiv-Artikel

Was nach Jessicas Tod geschah

Heute vor einem Jahr verhungerte in Hamburg eine Siebenjährige. Die Politik brachte einige Maßnahmen auf den Weg. Doch kürzlich wurde ein verwahrloster Junge entdeckt

Der Kinderschutzbund geht von 8.000 vernachlässigten Kindern in Hamburg aus

HAMBURG taz ■ Es waren die Folgen lange andauernder Unterernährung, die zum Tode führten: Am 1. März vergangenen Jahres erstickte im Hamburger Stadtteil Jenfeld die siebenjährige Jessica an Erbrochenem. Zu diesem Zeitpunkt wog das Mädchen noch neuneinhalb Kilo, litt unter Hungerödemen und Mangelerscheinungen. Über Jahre war Jessica von ihren Eltern in einem dunklen Zimmer gefangen gehalten worden, Nachbarn berichteten, von ihrer Existenz überhaupt nicht gewusst zu haben.

Gegen die Eltern erging Haftbefehl wegen „gemeinschaftlichen Totschlags durch Unterlassen“, die Staatsanwaltschaft erhob Anklage wegen Mordes. Verurteilt wurden sie im November 2005 zu lebenslanger Haft, beide haben Revision eingelegt.

Kurz nach Jessicas Tod rief die lokale Politik nach umfassender Aufklärung – und nach Konsequenzen. Wie es sein könne, so wurde gefragt, dass das Mädchen nie eingeschult wurde, obwohl es behördlich gemeldet war. Alle drei Bürgerschaftsfraktionen – die regierende CDU sowie die oppositionellen SPD und Grünen – sorgten für die Einsetzung eines Sonderausschusses. Bildungs- und die Sozialbehörde schoben einander wochenlang die Verantwortung zu, und Justizsenator Roger Kusch (CDU) mutmaßte angesichts der offenbar fehlenden Abstimmung, ob bei den Jugendämtern nicht „mit dem Hinweis auf Datenschutz nur Unwilligkeit kaschiert wird“. Sozialarbeiter warnten, vernachlässigte Kinder gebe es „in Massen“, das komme aber meist nur zufällig heraus.

Überregional bekannt wurde etwa die zweijährige Michelle, die an den Folgen einer nicht behandelten Mandelentzündung starb, weil die Eltern nicht zum Arzt gingen. Aktuell geht der Kinderschutzbund von bis zu 8.000 Fällen in der Stadt aus.

„Hamburg schützt seine Kinder“, versprach im September dann die Sozialsenatorin und Zweite Bürgermeisterin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) bei der Präsentation eines Maßnahmenpakets des Senats. So sollten die Arbeit der Jugendämter „prozessoptimiert“ und zuvor vakante Stellen befristet wieder besetzt werden. Auch wollte die Stadt Kindertagesstätten und Kinderärzte verstärkt als Wächterinstanzen eingesetzt sehen.

Besonders die Personaldecke bei den Jugendämtern – in Hamburg Allgemeine Soziale Dienste genannt – blieb ein Streitpunkt. Nur vage äußerte sich dazu der überfraktionelle Sonderausschuss „Vernachlässigte Kinder“, der im Januar seine Arbeit für beendet erklärte. Ein „Verschieben von Verantwortung zu Lasten der Kinder“ solle es nicht mehr geben, hieß es da, und dass man durch „aufsuchende“ Sozialarbeit die Risikofamilien früher zu erreichen hofft.

Anfang des Monats nun brachte Hamburg eine Initiative für verbindliche Früherkennungsuntersuchungen von Kindern in den Bundesrat ein – auch dies unter Berufung auf den Fall Jessica. Die Hamburger Polizei wiederum hat an diesem Montag angekündigt, künftig verstärkt gegen die Vernachlässigung von Kindern zu arbeiten. Das „Hamburger Modell“ sieht vor, dass sich rund 50 derzeit mit häuslicher und Beziehungsgewalt befasste Mitarbeiter in Zukunft um Vernachlässigungsfälle kümmern.

Dass die bessere Vernetzung von Polizei und Jugendämtern sinnvoll sein dürfte, machte aktuell der Fall Elias deutlich: Ende der Vorwoche war der Dreijährige fast nackt und verwahrlost in einer Wohnung in Hamburg-Dulsberg entdeckt worden. Die drei Bürgerschaftsfraktionen haben deshalb für morgen eine Sondersitzung des Familienausschusses anberaumt: Einhellig wollen CDU, SPD und Grüne geklärt wissen, „warum das Hilfesystem erneut versagt hat“.

ALEXANDER DIEHL