„Da kann man helfen, dass der Himmel aufreißt“
DER PFARRER Als Politiker hat Steffen Reiche Brandenburgs Ministerpräsidenten Matthias Platzeck einst in die SPD geholt. Dass der ihn später abservierte, ficht Reiche heute nicht mehr an. In seinem Beruf als Pfarrer fühlt er sich besser aufgehoben
■ Der Pfarrer: Steffen Reiche wurde am 27. Juni 1960 in Potsdam geboren. Nach dem Abitur studierte er Evangelische Theologie. 1988 trat er seine erste Pfarrstelle in Christinendorf an.
■ Der Politiker: Noch vor der Wende gehörte Reiche am 7. Oktober 1989 zu den Mitbegründern der Sozialdemokratischen Partei der DDR (SDP). Bis 2000 war er Landesvorsitzender der brandenburgischen SPD. Reiche war von 1990 bis 2005 Abgeordneter im brandenburgischen Landtag. Von 2005 bis 2009 war er im Deutschen Bundestag. 2009 verfehlte er nur knapp sein Direktmandat im Wahlkreis Cottbus-Spree-Neiße.
■ Der Minister: Von 1994 bis 1999 war Reiche unter Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) Minister für Wissenschaft, Forschung und Kultur in Brandenburg. 2002 wechselte er ins Bildungsministerium. Nach der Wahl 2004 berief ihn Ministerpräsident Matthias Platzeck nicht mehr ins Kabinett. Reiche hatte sich für Rot-Rot starkgemacht.
■ Wieder Pfarrer: Nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag nahm Reiche eine Pfarrstelle bei der Epiphaniengemeinde in Charlottenburg an und wechselte 2012 nach Nikolassee.
INTERVIEW UWE RADA
FOTOS SONJA TRABANDT
taz: Herr Reiche, was ist der Unterschied zwischen einer Predigt und einer Rede vor dem Parlament?
Steffen Reiche: Auf der Kanzel muss von den letzten Dingen geredet werden. Im politischen Geschäft darf dagegen nicht von den letzten Dingen her argumentiert werden.
Warum nicht?
Weil sorgsam unterschieden werden muss zwischen den letzten und den vorletzten Dingen. Politik kann und darf nie für sich beanspruchen, auf dem Letztgültigen zu basieren oder letztgültige Entscheidungen zu treffen.
Politiker sind auf Zeit gewählt.
Und politische Entscheidungen können immer wieder geändert werden. Weil sich Menschen verändern, die Dinge und die Zeiten.
Worüber reden Sie selbst am liebsten, von den letzten oder von den vorletzten Dingen?
Der Prediger Salomo hat einmal gesagt: Alles hat seine Zeit. Lieben hat seine Zeit und nicht lieben. Arbeiten und nicht arbeiten. Steine aufschichten und Steine zerstreuen. Insofern hat es in meinem Leben weit über zwanzig Jahre die Möglichkeit politischen Engagements gegeben. Das war für mich eine prägende, eine schöne Zeit, in der ich viel gelernt habe, Kontakte geknüpft habe, die ich heute in meiner Arbeit nutzen kann. Ich bin froh, wieder in meinem alten Beruf zu sein. Ich habe 1989 nicht zu den Pfarrern gehört, die gesagt haben: Au fein, jetzt gibt es die Möglichkeit, den ungeliebten Beruf an den Nagel zu hängen.
Das hört sich an, als ob sich ein Kreis bei Ihnen geschlossen hätte. Man könnte es aber auch so sehen, dass Ihre politische Karriere gleich zweimal jäh unterbrochen wurde: dass Ihr Ausscheiden aus der Politik also nicht so freiwillig war, wie es bei Ihnen klingt.
Dass ich 2009 nicht wieder in den Bundestag kam …
… sie hatten ihr Bundestags-Direktmandat in der Lausitz knapp verloren …
… war für mich letztlich hilfreich. Ich hätte vier Jahre Opposition machen müssen! Da wäre ich nicht wirklich glücklich geworden. „Opposition ist Mist“, hat Müntefering zurecht gesagt.
Davor sind sie schon 2004 von Matthias Platzeck nicht mehr als Bildungsminister in Brandenburg nominiert worden. War das auch hilfreich? Oder waren Sie da auch wütend?
Auch wütend. Und menschlich enttäuscht.
Sie galten ja einmal als Platzecks Nachfolger.
Eine andere Frage ist, ob ich das wirklich werden wollte. Viel wichtiger ist: Starke Ministerpräsidenten wie Manfred Stolpe haben es sich leisten können, Menschen wie Hanno Bräutigam von der UNO aus New York zu holen. Oder Wilma Simon aus Hamburg. Platzeck nicht. Wohin das führt, kann man derzeit in Brandenburg besichtigen.
Duldet der brandenburgische Ministerpräsident neben sich niemanden auf Augenhöhe ist?
Bei Hofe ist Widerspruch nicht sonderlich geliebt. Aber auch dort eben notwendig.
Sie hatten aber ein besonderes Verhältnis zu ihm. Sie haben ihn 1995 in die SPD geholt.
Ich habe mehrfach seine politische Existenz gerettet. 1994 zum Beispiel, als eine SPD-Alleinregierung einen parteilosen Minister nicht wollte.
Platzeck war damals bei Bündnis 90 ausgetreten und Umweltminister geblieben.
Genau.
Hat es Sie trotzdem überrascht, so kalt abserviert zu werden?
Ich war überrascht, ja. Aber das ist nun lange vorbei. Tempi passati! Mittlerweile bin ich froh, meine Freiheit zu haben.
Sie hätten schon 2004 sagen können: „Jetzt hat die Politik gezeigt, was sie kann. Ich habe viel gelernt. Aber sie hat auch gezeigt, was sie nicht kann.“ Eine Gelegenheit zum Abschied. Oder war diese kleine Ehrenrunde im Bundestag Trauerarbeit?
Könnte man so sehen.
Nach Ihrem Ausscheiden aus dem Bundestag waren Sie zwei Monate auf Weltreise. Welchen anderen Steffen Reiche haben Sie da kennengelernt?
Ich hatte vor 1989 nie die Möglichkeit, große Weltreisen zu machen. Allerdings bin ich zweimal illegal, das heißt nur mit einem Transitvisum, durch die Sowjetunion gereist. Einmal nach Baku, das zweite Mal nach Sankt Petersburg und die baltischen Republiken. Ohne die Möglichkeit, in einem Hotel oder einer Jugendherberge zu übernachten. Damals habe ich gut Russisch gelernt. Das war schon Abenteuer. Aber es war noch keine Weltreise. So wie nach China, Indien oder Vietnam.
Sie sagten mal, diese Reise hat Ihnen Therapiekosten erspart.
Das stimmt. Ich habe mich dabei wirklich anders kennengelernt, es war eine kathartische Reise.
Wie lange haben Sie gebraucht, um das Politikerleben hinter sich zu lassen?
Das war gleich von Anfang an weg. Schon als ich in Mumbai gelandet bin, war es weg. Vielleicht ist das eine Gabe. Ich mache die Erfahrung auch hier in Nikolassee. Wenn ich hier bin, bin ich mit dem beschäftigt, was ich hier machen muss. Setze ich mich aufs Rennrad und fahre zu unserem Grundstück nach Spandau, fällt alles weg.
Das klingt nach Leben im Hier und Jetzt.
Nicht nur. Für mich und meinen Glauben hat es eine konstitutive, also tägliche Bedeutung, die feste Gewissheit zu haben, dass mit dem Ende meines Lebens nicht das Ende meiner Beziehung zu Gott kommt. Sondern dass Gott dieses Leben über den Tod hinaus in einer mir nicht erkennbaren Form bewahren wird.
Das lässt Sie mit Zäsuren wie 2004 oder 2009 ganz anders umgehen als jemand, der diesen festen Glauben nicht hat?
Das würde ich zu Lasten anderer so nicht sagen. Für mich kann und muss ich aber sagen: Ohne dieses Vertrauen, ohne diese Gewissheit könnte ich solche Zäsuren nicht heil überstehen. Und mir würde ein wesentlicher Teil an Lebensfreude fehlen. Es gibt Männer, die ziehen ein T-Shirt über, auf dem steht: „Bier formte diesen wunderschönen Körper.“ Ich müsste ein T-Shirt anziehen, auf dem steht: „Die Lebensfreude kommt vom Glauben.“
Sie sind 1988 als Pfarrer ordiniert worden, aber schon ein Jahr später während der Wende in die Politik gegangen. Was hat Sie an der Politik so fasziniert?
Ich musste als Christ in der DDR widersprechen und habe mich deshalb in einen überlegten Widerstand hineinbegeben. Deshalb habe ich mit Freunden die einzige Partei, der ich zutraute, wirksam Paroli bieten und Demokratie unverbraucht fordern zu können, mitbegründet.
Die Ost-SPD, damals SDP.
Genau. Das war mich ein Akt bürgerlichen Ungehorsams und christlichen Widerstands. Der war geboten. Dann wurde mir schnell klar: Jetzt muss ich das auch weitermachen, deshalb habe ich für die Volkskammer kandidiert. Dann haben wir den Landesverband Brandenburg gegründet. Ich habe mit Johannes Rau dann Manfred Stolpe gebeten und überzeugt, für das Amt des Ministerpräsidenten zu kandidieren. Gegen den Willen übrigens von Reiner Speer, der damals sagte: Nicht noch ein Kirchenfuzzi.
Damals gab es bereits den ersten Konflikt mit Platzeck.
„Ohne den Glauben würde mir ein wesentlicher Teil an Lebensfreude fehlen“
Stolpe sagte mir: „Wenn ich kandidiere, dann musst du auch in mein Kabinett kommen.“ Ich sollte für die SPD damals das Bildungsressort übernehmen. Einen Tag vor der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags kam dann Platzeck und teilte uns mit, dass das Bündnis 90 nicht das Umweltressort wolle, sondern Bildung übernehmen solle.
Als Bildungsminister haben Sie das Fach LER eingeführt. Ausgerechnet Sie, als Pfarrer.
Gerade als Pfarrer war ich davon überzeugt, dass ein verbindliches Fach für alle Schülerinnen und Schüler wie Lebensgestaltung, Ethik und Religion Pflichtfach werden muss. Gerade dieses Fach muss integrativ und inklusiv unterrichtet werden. Das ist übrigens besser gelungen als in Berlin, weil der Konsens größer war.
Sie waren insgesamt zehn Jahre Minister in Brandenburg. Das Ende einer politischen Karriere auch als Neubeginn zu begreifen, ist ja nicht die Regel. Vielleicht können Sie uns verraten, wie ein Politiker tickt, dass er im Normalfall so schwer loslassen kann von seinem Amt.
Weil es für die Politiker zum Höchsten und Wichtigsten im Leben geworden ist. Und weil sie sich nicht vorstellen wollen oder können, dass danach auch gültiges Leben in Würde möglich. Bei manchen ist es sicher auch Ausdruck von Allmachtsfantasien. Die glauben dann, dass andere es nicht so gut könnten wie sie.
Trägt die Politik dazu bei?
Klar.
Oder kann man so nur existieren als Politiker?
Nee. Aber es ist schwer. Wenn jemand nicht mit einem klaren Geist oder einem starken Rückgrat in die Politik geht, ist es schwer.
Als Pfarrer sind Sie hier der Seelsorger, zu dem die Leute mit ihren Problemen kommen.
Ich mache das gern. Ich hab hier auch noch nicht das Gefühl gehabt, dass mir das zu viel wurde. Und gerade in Situationen wie bei Trauergesprächen, bei Hochzeiten, bei Abschieden oder auch im Konfirmandenunterricht kann man Ungewöhnliches erleben. Da kann man helfen, dass der Himmel ab und an mal aufreißt. Neulich kam ein Konfirmand zu mir und sagte: „Herr Reiche, wie machen Sie es nur, uns so zum Sprechen zu bringen?“ Das gibt Motivation und Freude.
Sie arbeiten hier in Nikolassee in einer Insel bürgerlicher Glückseligkeit. Warum haben Sie sich nicht für ein Pfarramt in Spandau oder in der Gropiusstadt entschieden?
Widerspruch. Ich war zuvor in Charlottenburg. Das war nicht nur gutbürgerlich. Zudem: Not gibt es überall. Entscheidend sind Achtung und Respekt, die man den Menschen entgegenbringt.
Es scheint, als seien Ihnen das politische Engagement und der Widerspruch, zu dem Sie sich in der DDR gezwungen sahen, nicht mehr so wichtig.
Weil mich dieses Amt fordert, habe ich immer mehr ehrenamtliche Tätigkeit eingestellt. So wie ich als Minister gedient habe – Minister heißt ja nichts anderes als Diener – tue ich es hier jetzt auch. Noch nie habe ich als Pfarrer so intensiv und gern gearbeitet wie hier.