„Als Zukunftsbeschreibung ist Inklusion berechtigt“
INTERVIEW I (WAS ER SAGTE) Inklusion ist selbstverständliche Teilhabe ohne Bringschuld, sagt Jürgen Schneider, Beauftragter für Menschen mit Behinderung. Die Interessen Behinderter spielten eine geringere Rolle als vor zehn Jahren
taz: Herr Schneider, was ist Inklusion?
Jürgen Schneider: Zuerst einmal ist es ein schillernder Begriff. Häufig wird er missbraucht, weil er etwas beschreibt, das wir noch nicht haben. Als Zukunftsbeschreibung ist er berechtigt, er wird nur häufig auf bestehende Zustände angewandt und das ist fast nirgends gerechtfertigt.
Und wie erklären Sie den Begriff so, dass ihn jeder versteht? Es gibt verschiedene Ansätze. Ich glaube, eine gewisse Berechtigung hat der Ansatz, zu sagen, dass Menschen mit Behinderung von Anfang an integriert sind und dann auch keine Bringschuld in dem Sinne mehr haben, dass sie ihre Unterstützung erkämpfen müssen. Sondern dass ihnen das, was sie benötigen, ganz selbstverständlich zur Verfügung gestellt wird. Ich benutze heute noch lieber den Begriff Integration. Inklusion ist noch einmal viel mehr, vor allem Bewusstseinsveränderung.
Vergeben Sie bitte Schulnoten von 1 für „sehr gut“ bis 6 für „ungenügend“. Fangen wir an mit der Mobilität.
Beim Nahverkehr sind wir bei 2. Zur Mobilität gehört aber auch der Nahbereich, zum Beispiel die Fußwege. Da wurden schon viele Bordsteinabsenkungen vorgenommen, aber es fehlt auch noch viel. Insgesamt würde ich eine 2 – vergeben.
Im Bereich Wohnen?Da haben wir ein großes Problem aufgrund des Wegfalls der Förderung des sozialen Wohnungsbaus vor einigen Jahren. Wir haben zu wenig Rollstuhlbenutzerwohnungen und gerade für Senioren zu wenig barrierefreie Wohnungen. Da muss dringend was gemacht werden. Insgesamt bewegen wir uns im Bereich „mangelhaft“, also eine 5.
Welche Note bekommt der Arbeitsbereich?
4 +. Die leistungsgeprägte Arbeitswelt ist unerbittlich zum Beispiel bei Menschen, bei denen sich ganz normale Volkskrankheiten wie Diabetes als Behinderung auswirken und die dann aus dem Arbeitsleben rausfallen und in der Regel auch nicht wieder zurückkommen. Auf der anderen Seite haben wir die Schwerstbehinderten, für die in den Behindertenwerkstätten ein Recht auf Arbeit besteht. Aber es gibt zu wenige Werkstattgänger, die auf den ersten Arbeitsmarkt kommen. Was ich mir wünsche, ist, dass das Land Berlin zum Beispiel noch mehr behinderte Auszubildende beschäftigt.
Wie steht es um die Schulen?
Im bundesdeutschen Vergleich recht gut, wobei sich die Zahlen vor allem aus der Integration von Kindern mit Förderbedarf in den Bereichen Lernen, emotionale und soziale Entwicklung, Sprache ergeben, also nicht die Schwerstbehinderten. Wenn die inklusive Schule nicht ausreichend mit Ressourcen ausgestattet wird, werden sich alle Bedenkenträger bestätigt fühlen. Insgesamt eine 3 –.
Wie weit sind die Hochschulen?
Wir haben einen Bestand an Altbauten, die nicht barrierefrei sind. Aber selbst die neu gebaute Grimm-Bibliothek der HU war bei der Eröffnung 2009 in weiten Teilen nicht barrierefrei. Das liegt daran, dass sich im Bauprozess niemand dafür verantwortlich fühlt. Ich will, dass es künftig Sachverständige für Barrierefreiheit aus dem Bereich Architektur gibt, genauso wie es den Sachverständigen für Statik, Brandschutz und energetisches Bauen gibt. Im Bereich Pädagogik müsste jeder künftige Lehrer geschult werden. Aber das ist noch ein langer Weg. Insgesamt auch hier eine 3 –.
■ Leichte Sprache besteht aus kurzen Sätzen ohne Konjunktive und abstrakte Begriffe. Fachbegriffe und Fremdwörter werden erklärt. Leichte Sprache ist keine Kindersprache. Sie nützt vor allem Menschen mit Lernschwierigkeiten und geistiger Behinderung.
■ Co-Interviewer: Beim Gespräch mit Jürgen Schneider war Enrico Schaffrath dabei. Er prüft die Qualität von Wohneinrichtungen und Behindertenwerkstätten und ist auf leichte Sprache angewiesen.
■ Übersetzung: Das Interview wurde von Capito Berlin in Leichte Sprache übersetzt. Menschen mit Lernschwierigkeiten haben den Text auf Verständlichkeit geprüft. Ihre Versionen erscheinen gewöhnlich in Schriftgröße 14. (mah)
Und der Bereich Politik?
Zwischen 3 – und 4. Es ist so, dass die Interessen von Menschen mit Behinderung nicht mehr die Rolle spielen, die sie noch vor 10, 15 Jahren gespielt haben, weil wir eine Problemgruppenkonkurrenz haben. Die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund spielt in der Wahrnehmung der Politik eine deutlich größere Rolle.
Dreimal 3 –, eine 4, eine 5: ein ganz schön düsteres Bild für die Inklusion in Berlin.
Ich hoffe ja, dass die demografische Entwicklung uns neuen Schub gibt. Es muss uns klar sein, dass jeder, der heute erwachsen ist und nicht vorzeitig verstirbt, irgendwann behindert sein wird. INTERVIEW: MANUELA HEIM
■ Übersetzung nebenan