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Archiv-Artikel

Entsetzen in der Ostseehalle

Die SG Flensburg-Handewitt gewinnt das Hinspiel im Viertelfinale der Handball-Champions-League beim favorisierten THW Kiel mit 32:28 und erntet nach einem herausragenden Spiel Lob vom Trainer des unterlegenen Gegners

KIEL taz ■ Neun Minuten vor dem Ende eines Spiels, das für den THW Kiel zu einem der großartigsten der Saison werden sollte, war für viele Kieler Fans die Schmerzgrenze erreicht. Zu Dutzenden verließen sie fluchtartig den Ort der großen Schmach. Mit 29:21 führte der ungeliebte Rivale aus dem Norden, die SG Flensburg-Handewitt, zu diesem Zeitpunkt im Viertelfinal-Hinspiel der Champions League in der Kieler Ostseehalle. Nicht wenige der 10.250 Zuschauer erfuhren erst aus dem Autoradio davon, dass Flensburg letztlich mit 32:28 (12:13) über ihren geliebten Verein triumphiert und sich somit eine traumhafte Ausgangsposition für das Rückspiel am Sonnabend verschafft hatte.

Das Ergebnis stand im schärfsten Widerspruch zur Erwartungshaltung des Kieler Publikums, schließlich galt ihr THW vor dem Anwurf als eindeutiger Favorit. Ein Sieg mit fünf bis sieben Toren wurde als machbar erachtet. Es war eine schlechte Prognose. Das Spiel endete für die Kieler in einem Debakel. Es deutet alles darauf hin, dass sich für Noka Serdarusic auch in seiner 13. Saison als Trainer des THW Kiel der Traum vom Gewinn des wichtigsten Vereinspokals der Welt wieder einmal nicht erfüllen wird.

Serdarusic zeigte in der bitteren Niederlage Größe. „Der Flensburger Sieg war hochverdient. Ich gehe davon aus, dass wir so ein schwaches Spiel nicht noch einmal hinbekommen können. Das war eine der schlechtesten Angriffsleistungen, die eine Mannschaft von mir je geboten hat. Wir sind Flensburg ins offene Messer gelaufen“, haderte er. Die Enttäuschung und die Ratlosigkeit standen ihm ins Gesicht geschrieben. „Ich kann es mir überhaupt nicht erklären, warum wir so schwach waren, denn unsere Angriffsleistung war vor wenigen Tagen in Göppingen noch überragend gewesen. Wir müssen uns in Flensburg um hundert Prozent steigern, wenn wir noch eine Chance haben wollen“, sagte der 55 Jahre alte Erfolgscoach, der von den Lesern der Fachzeitschrift Handball-Magazin zum Trainer des Jahres 2005 gewählt wurde.

Sein Flensburger Kollege Kent-Harry Andersson betätigte sich wieder einmal als zurückhaltender Genießer. Große Worte in eigener Sache sind ihm zuwider. Dabei hätte er allen Grund dazu gehabt, Lobeshymnen auf sein Team zu singen und seinen Anteil am Erfolg herauszustreichen. Manager Thorsten Storm nahm ihm das ab und sprach von einer „taktischen Meisterleistung“ des Trainers.

Flensburg stand schon in der ersten Halbzeit hervorragend in der Deckung und war hellwach bei eigenen Chancen. Auf den Kieler Tempohandball ließen sie sich gar nicht erst ein. Dass die Gäste nicht schon zur Pause führten, lag daran, dass THW-Torhüter Henning Fritz den Klassenunterschied mit etlichen starken Paraden noch kaschieren konnte. Als Kiel nach dem Wechsel im Angriff rein gar nichts mehr zustande brachte, brach das Unheil über die Zebras herein. Die SG Flensburg-Handewitt, die in Torwart Jan Holpert (16 Paraden) einen exzellenten Rückhalt besaß, zog in einer Leichtigkeit Tor um Tor davon, dass die Bemühungen der Gastgeber dagegen geradezu kläglich wirkten.

„Das Komische an dem Spiel war, dass noch viel mehr für uns drin gewesen wäre“, sagte Kent-Harry Andersson. „Wir haben zeitweise mit acht Toren geführt. Es ärgert mich schon ein bisschen, dass wir diesen Vorsprung nicht haben halten können. Vier Tore Vorsprung sind im Handball gar nichts.“

Der Glaube der Kieler Spieler und Verantwortlichen an ein Wunder in Flensburg hielt sich kurz nach dem Debakel stark in Grenzen. „Wir können im Rückspiel nur noch ‚Alles oder nichts‘ spielen“, sagte THW-Manager Uwe Schwenker. Kreisläufer Marcus Ahlm traute sich als Einziger, Zweckoptimismus zu verbreiten. „Wir geben jetzt nicht auf. Wenn Flensburg mit vier Toren in der Ostseehalle gewinnen kann, schaffen wir das auch in der Flensburger Campushalle.“ Die THW-Fans vernahmen das nicht mehr. Sie waren längst aus der Ostseehalle gehastet.

CHRISTIAN GÖRTZEN