Bretagne–Bremen und wieder zurück

GESCHICHTE Franz de Beaulieu war ein bretonischer Bremer, den die Kirche wegen „Wehrkraftzersetzung“ nach 1945 beharrlich ausgrenzte und noch in Frankreich mobbte. Nun ist sein Leben nachzulesen

Söhnen geht es oft um Abrechnung oder Verehrung. Beaulieu hingegen besticht durch Gelassenheit

Die Besetzung Bremens durch das napoleonische Frankreich war leider viel zu kurz, um die in jeder Hinsicht stagnierende hiesige Ständegesellschaft gründlich zu modernisieren. Ein noch weiter zurück liegendes Ereignis beschert den Bremern jetzt hingegen eine sehr lesenswerte Biographie, die im Donat-Verlag erschienen ist: „Mein Vater, Hitler und ich“ von François de Beaulieu. Dessen hugenottische Vorfahren waren wegen der Aufhebung des Toleranz-Edikts von Nantes (1685) via Preußen nach Bremen emigriert.

Es ist ein Buch, das der Verlag zu Recht als „Comédie humaine“, als hochinformative, zum Teil grotesk-burleske und dabei völlig bitterkeitsfreie Reise durch den Wahnsinn des 20. Jahrhunderts anpreist. Protagonist dieser Tour du temps ist Beaulieus Vater Franz Charles, geboren 1913 in Bremen. Dessen Vater wiederum brachte es in der Hansestadt zum Senator für Schulangelegenheiten und somit zum Kollegen von Senator Kirchhoff, dessen Frau Auguste die bekannte Pazifistin war. Sie veranlasste Franz Charles zur Lektüre von Bertha von Suttners „Die Waffen nieder!“. Die Folgen: Theologie-Studium und eine pazifistische Haltung, sodass aus dem jungen Wehrmachtsangehörigen ein Widerstandskämpfer wurde.

Wenn ein Sohn die Geschichte des Vaters erzählt, geht es oft um Abrechnung oder Heldenverehrung. Beaulieus Buch hingegen besticht durch große Gelassenheit. Mit wohltuendem Humor schöpft er aus dem opulenten Quellen-Nachlass seines Vaters, der unter anderem aus einem wahren Schatz an Korrespondenzen besteht, aber auch an selbst recherchiertem Material. So beschreibt Beaulieu en passant etwa die glänzenden Nachkriegs-Karrieren der Richter seines Vaters, die diesen wegen „Feindbegünstigung“ – Beaulieu hatte Informationen über die wahren Stalingrad-Verluste verbreitet – verurteilten. Einer dieser Richter lobte sich im Übrigen, in einem Brief an Vater Beaulieu von 1961, für die „damalige Milde meines Urteils“.

Diese „Milde“ bescherte Beaulieu die Einlieferung in das berüchtigte Torgauer Gefängnis, das von Ex-Leutnant Remmlinger, Hitlers Vorgesetztem im Ersten Weltkrieg, geleitet wurde. Die Insassen verrichten Sklavenarbeit unter anderem für Villeroy & Boch – das Fliesenimperium, das sich bis heute nicht zu seiner Zwangsarbeiter-Ausbeutung bekennt. Es folgte der Einsatz im Strafbataillon an der Ostfront.

Beaulieus Geschichte wirft Schlaglichter auf die Bremer Gesellschaft in der jungen Bundesrepublik – denn die Bestrafungen endeten keineswegs mit dem Untergang des NS-Staates: Als sich Beaulieu in seiner Heimatstadt, in der sein Großvater auch Kirchensenator gewesen war, um ein Pfarramt bewarb, verweigerte ihm die Bremer evangelische Kirche die Anstellung. Sie verwies auf seine Verurteilung als „Wehrkraftzersetzer“.

Es ist eine Qualität solcher Lebenszeugnisse, auf wenig beachtete Ambivalenzen hinzuweisen. So ist von Martin Niemöller zwar bekannt, dass der führende Theologe der Bekennenden Kirche zugleich ein glühender Nationalist war. Als Mitverfasser des berühmten Stuttgarter Schuldbekenntnisses der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) gilt er neben Dietrich Bonhoeffer nichtsdestoweniger als der Widerstands-Protestant schlechthin. So ist es noch nicht einmal ein besonders großer Zufall, dass derselbe Flyer des Donat-Verlages, der Beaulieus Buch bewirbt, anhand der ebenfalls kürzlich erschienenen Biographie des friedensbewegten Bremers Diether Koch positiv auf Niemöller Bezug nimmt. Im Fall von Vater Beaulieu verhinderte Niemöller dessen Anstellung bei der deutschen Gemeinde in Paris, die dieser nach der Bremer Ablehnung anstrebte. In seiner Eigenschaft als Leiter des EKD-Außenamtes schrieb Niemöller an Beaulieu: „In meinen Augen haben Sie Ihr Vaterland verraten.“

Beaulieu kehrte schließlich in die bretonische Heimat seiner Vorfahren zurück, in der sein Sohn heute lebt.  Henning Bleyl