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Archiv-Artikel

Für eine Kultur der Einwanderung

Konservative reduzieren „Integration“ gerne auf den Erwerb der deutschen Sprache und repressive Maßnahmen. Nötig bleibt jedoch die interkulturelle Öffnung der Gesellschaft

In unionsregierten Bundesländern wird Projekten, die der Integration dienen, das Geld gekürztQuoten könnten ein hilfreiches Mittel sein, um Partizipation und Zugang von Migranten zu verbessern

Es vergeht derzeit kaum ein Tag, an dem sich nicht irgendein Unionspolitiker mit seinen Ideen zur Integration zu profilieren versucht. Doch vom „Gesinnungstest“ in Baden-Württemberg bis zur Deutschpflicht auf deutschen Schulhöfen, von den Debatten über Zwangsehen und Ehrenmorde bis zur Forderung, die elektronische Fußfessel für Flüchtlinge einzuführen – all diese Vorschläge sind Ausdruck von Misstrauen und Angst gegenüber vermeintlich fremden und gefährlichen „Ausländern“. Wenn aber die Angst den Diskurs bestimmt, dann ist es nicht mehr die reale Situation der Bedrohung, sondern vielmehr die Realität der Angst, die das Denken und Handeln steuern. Genau dieser Mechanismen bedienen sich derzeit konservative Politiker sowie die Autorin Necla Kelek. Denn sind die Ängste erst einmal geschürt, kann man sie dem eigenen Interesse nutzbar machen.

Dabei scheint sich ein neuer integrationspolitischer Mainstream der Konservativen in Europa herauszubilden: eine repressive Integrationspolitik, die an die Einwanderinnen und Einwanderer nur noch Erwartungen formuliert und zugleich die Bedingungen für die Integration massiv erschwert. Zwar wird von Integration gesprochen, gemeint ist in erster Linie aber Assimilation. Den Einwanderern wird pauschal die Bereitschaft zur Integration abgesprochen, ohne dass sich diese Behauptung belegen lässt. Empirische Daten werden dazu jedenfalls keine vorgelegt: Es scheint ja viel bequemer und entlastender zu sein, den Einwanderern selbst die Schuld an ihrer Misere zu geben.

Wer sich aber einmal die Mühe macht und die Bilanzen der Integrationskurse des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge aus dem vergangenen Jahr betrachtet, der wird feststellen, dass von einem Mangel an Integrationsbereitschaft keine Rede sein kann. Allein in den ersten neun Monaten nachdem das Zuwanderungsgesetz in Kraft trat, ließen sich rund 220.000 Menschen freiwillig für einen so genannten Integrationskurs registrieren bzw. nahmen an einem solchen Kurs teil. Diese Zahl hat selbst die kühnsten Erwartungen übertroffen. Und das Beispiel zeigt: Dort, wo es sinnvolle Angebote gibt, werden diese auch genutzt.

Dabei ist jedoch eine interessante Entwicklung zu beobachten. In fast allen Bundesländern, in denen die Union regiert, wurden in den letzten Jahren vor allem im Bereich sozialer Projekte und integrationsfördernder Angebote drastisch die Gelder gekürzt oder gestrichen. Öffentlich reden Unionspolitiker zwar über „Zwangsehen“ und „Ehrenmorde“. Doch konkrete Projekte, die als Anlaufstelle für Betroffene dienen könnten, wurden nur sehr wenige eingerichtet.

Ein weiteres Merkmal des konservativen Verständnisses von Integration ist es, diese ganz auf den Erwerb der deutschen Sprache zu reduzieren. Es scheint der Glaube vorzuherrschen, allein die Beherrschung der deutschen Sprache bedeute automatisch Integration. Das ist jedoch ein Irrglaube. Selbstverständlich ist das Erlernen der Sprache des Aufnahmelandes enorm wichtig, und daran haben die meisten Einwanderer auch ein ureigenes Interesse. Doch mit Deutschkursen allein ist noch keine Integration erreicht. Haben nicht gerade die Ausschreitungen in den Trabantenstädten in Frankreich vor Augen geführt, dass Sprache und Staatsangehörigkeit allein noch kein Kennzeichen gelungener Integration sind? Die Jugendlichen, die in Frankreich randaliert haben, besaßen jedenfalls fast alle die französische Staatsangehörigkeit und sprachen die französische Sprache.

Integration bedeutet immer auch rechtliche Integration, Einbürgerung, politische Partizipation und Schutz vor Diskriminierung. Sie kann nur funktionieren in einer Gesellschaft, die sich öffnet – zum Beispiel in ihrem Bildungssystem. Doch das deutsche Schulsystem drängt vor allem die Kinder und Jugendlichen, die aus Einwandererfamilien und armen Elternhäusern stammen, schon früh an den Rand. Der UN-Sonderberichterstatter Vernor Muñoz hat jüngst bei seiner Inspektionsreise durch deutsche Schulen kritisiert, dass das dreigliedrige Schulsystem vor allem Einwandererkinder durch das Raster fallen lässt: Zu viele brechen die Schule ab, zu wenige erreichen einen höheren Abschluss. Der Weg in die Arbeitslosigkeit ist damit vorprogrammiert. Seit vielen Jahren überfällig ist deshalb eine grundsätzliche Strukturreform des deutschen Schulwesens sowie einer Reform der Lehrerausbildung.

Für eine bessere Integration gibt es zwar kein Patentrezept. Aber es gibt viele effektive Konzepte, die darauf warten, endlich umgesetzt zu werden. Dazu gehört die interkulturelle Öffnung aller Institutionen: Kindergärten, Schulen und Ausbildungsstätten, Krankenhäuser, Altersheime sowie Behörden müssen sich den Herausforderungen einer Einwanderungsgesellschaft stellen. Entsprechend ihrem Anteil an der Bevölkerung müssten Einwanderer in allen Berufsfeldern vertreten sein.

Dazu braucht es jedoch ein Umdenken in der Einstellungspolitik. Statt immer mehr Sondergremien wie „Ausländer- oder Integrationsbeiräte“ zu schaffen, sollten Migranten besser in bereits bestehende Gremien wie Landesschulräte, Seniorenbeiräte oder Landesrundfunkräte integriert werden. Entsprechende Quoten werden, ähnlich wie auf dem Feld der Frauenpolitik, in anderen Ländern ganz selbstverständlich als probates Mittel zur Gleichstellung gesehen. Bei allen Vorbehalten, die es gegen solche Regelungen gibt, könnten diese doch zumindest für den Anfang eine positive Wirkung entfalten, indem sie Zugang und Partizipation ermöglichen.

Das setzt natürlich voraus, dass die Partizipation von Einwanderern auch tatsächlich gewollt wird. Der Alltag von Migranten in Deutschland sieht noch immer anders aus: Er ist nach wie vor von hoher Arbeitslosigkeit, schlechten Bildungschancen, Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung geprägt. Sämtliche Studien belegen, dass sich die soziale Situation der Einwanderer in Zeiten von Globalisierung und Wirtschaftskrise zunehmend verschlechtert hat. Und Umfragen verschiedener Institute machen seit Jahren darauf aufmerksam, dass Einwanderer sich in zunehmendem Maße diskriminiert fühlen. Zu Recht wird deshalb gefordert, endlich die europäischen Richtlinien zum Antidiskriminierungsgesetz umzusetzen, mit denen sich die Bundesrepublik noch immer schwer tut.

Die „multikulturelle Gesellschaft“, vielfach totgesagt, ist schon lange Realität. Aber Multikulturalität ist nur eine Zustandsbeschreibung. Die eigentliche Aufgabe und Herausforderung ist die Integration: das Gestalten einer interkulturellen Gesellschaft, in der Platz für alle ist.

Denn je mehr ein Migrant in Deutschland das Gefühl hat, dass seine Kultur anerkannt wird, desto mehr wird er sich der Kultur des Aufnahmelandes öffnen. Wir mögen zwar inzwischen auch offiziell ein Einwanderungsland sein. Aber wir sind noch immer weit entfernt von einer Kultur der Einwanderung.

NEBAHAT GÜÇLÜ