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Archiv-Artikel

Penis, Panzer, Pubertäten

ERINNERUNG Alles ist es wert, benannt zu werden: Jan Faktor erzählt von einer problematischen Jugend im Prag der Sechzigerjahre

VON JÖRG MAGENAU

Mit dem Erzählen ist es so wie mit allen Dingen im Leben. Irgendwann taucht die Frage auf, warum und wem man erzählt und was das alles soll. Die Vergangenheit wird ja nicht besser dadurch, und überhaupt: Reden wir nicht viel zu viel? Das Bekenntnis: „Ich werde keine Romane schreiben, Prosa lehne ich sowieso ab. Ich will lieber auf alles draufhauen, möglichst auf jedes einzelne Wort“, kann deshalb mit Verständnis und Sympathie rechnen. Auf Seite 539 eines 640 Seiten umfassenden Romans kommt es aber doch überraschend. Georg, Romanfigur und jugendliches Alter Ego von Jan Faktor, äußert sich so gegenüber einem tschechischen Schriftsteller, der ihm daraufhin prophezeit: „Vielleicht nachdem du alles zerhauen hast, Georg, warte mal ab. Das Erzählen hat etwas Magisches, glaube mir. Im Grunde will man als Leser – in jedem Zeitalter – immer nur wissen, wie es weitergeht, und vor allem, wie es in seinem eigenen Leben weitergehen wird und ob es besser wird. Papa, Mama, wie es weitergeht.“

Tatsächlich hat der Schriftsteller Jan Faktor wenig Zweifel am Erzählen. Seine Phase als experimenteller Lyriker hat er längst hinter sich gelassen. Als er 1978 von Prag nach Ostberlin zog, gehörte er zur alternativen Literaturszene in Prenzlauer Berg, war aber als Tscheche, der die deutsche Sprache wie einen Fremdkörper betastete und zerlegte, eher ein Außenseiter.

Glauben an die Zukunft

Literatur, sagte er damals, „hat nur einen Sinn als Zeugnis dafür, dass es jemandem gelungen ist, das Gefühl der eigenen Überflüssigkeit zu überwinden.“ Seinen „Georg“ gab es da bereits als eine Figur, der er diverse „Versuche an einem Gedicht und andere Texte aus dem Dichtergarten des Grauens“ zuschreiben konnte. In seinem 2005 mit dem Alfred-Döblin-Preis ausgezeichneten Roman „Schornstein“ kehrte Georg als Hauptfigur zurück. Heute erzählt Jan Faktor so bedenken- wie skrupellos. Alles, was war, ist es wert, benannt, gezeigt, erklärt zu werden.

Die Frage, „wie es weitergehen wird“, ist dabei nur von untergeordneter Bedeutung gegenüber dem Bedürfnis, Türangeln, Baustellen, Mülltonnen oder Abflusssysteme in ihrer Funktionsweise zu erfassen. Diese dingliche Selbstsicherheit des Erzählers hat vielleicht damit zu tun, dass Georg schon zu Beginn erklärt, von einem geradezu unerschütterlichen Glauben an eine helle Zukunft getragen worden zu sein – einem Glauben, der ihm sein durchschnittliches Dahinvegetieren ungemein erleichterte. Die Jugend im sozialistischen Prag der Sechzigerjahre war ja gewissermaßen von Amts wegen auf Zukunft ausgerichtet. Georgs Sorgen betreffen also – wie schon der Romantitel verrät – „nicht vorrangig die jeweilige Gegenwart, sondern fast ausschließlich meine Vergangenheit“. Denn das, was war, entspricht dem, was hätte sein sollen, leider nie.

„Georgs Sorgen“ handelt von einer weit verzeigten, unübersichtlichen Familie, die sich nach dem Krieg als Zweckgemeinschaft von Überlebenden in einer Prager Altbauetage zusammengefunden hat. Sie besteht fast ausschließlich aus Frauen: Georgs Mutter, seinen nur schwer zu zählenden Tanten, Großmüttern und Großtanten. Einige davon sind schon aus „Schornstein“ bekannt, ebenso wie ihre recht saloppe Haltung zu ihren KZ-Erlebnissen, die sie gern mit viel Gelächter zum Besten geben. Der natürliche Frauenüberschuss dieser jüdischen Familie hat damit zu tun, dass „aus den KZs nach dem Krieg nicht die Herren, sondern eher die Damen“ zurückkamen. Der Vater, Bediensteter der Geheimpolizei und maßloser Trinker, lebt jedoch mit seiner neuen Freundin in einem anderen Stadtviertel.

Zusammenbruch im KZ

Und der Onkel mit den weißen Beinen verschanzt sich hinter alten Schränken, die er so zurechtrückt, dass er in ihrem Schatten eine Art Privatexistenz inmitten der Frauenfamilie führen kann. Das häusliche Miteinander ist so eng, dass es Georg schwerfällt, Einzelwesen und nicht nur den Gesamtorganismus wahrzunehmen. Er vergleicht dieses funktionale, symbiotische Zusammenleben mit dem von Ameisen oder Bienen. Schon früh sprach Jan Faktor ironisch-bösartig von seiner „privaten jüdischen Verbundenheit mit bestimmten Kleintieren“. Hier zeigt er nun, wie er das gemeint hat.

Einer der erzählerischen Höhepunkte des Buchs ist die Beschreibung der Reise, die Georg mit seiner Mutter nach Christianstadt in Polen unternimmt. Sie besuchen die Reste eines Konzentrationslagers und der Munitionsfabrik, in der die Mutter von den Nazis als Zwangsarbeiterin eingesetzt worden war. Dieser Besuch ist dann doch zu viel für sie und endet mit einem körperlichen Zusammenbruch und, kurz darauf, mit einem Schlaganfall. Spätestens da wird deutlich, dass die in der Familie vorherrschende Ironie im Umgang mit der Vergangenheit auch nur eine Schutzhaltung ist.

Von der Kindergartenzeit bis in die Jahre der schwierigen Loslösung von zu Hause reichen die Sorgen, von denen Georg berichtet. Die Sorge um den eigenen Penis ist seine Zentralsorge. Zugleich ist sein Zentralorgan eine Art Wünschelrute, die den Weg zu den Frauen weist. Alles Denken Georgs kreist um das andere Geschlecht. Das liegt einerseits an der nie ganz unproblematischen Lebensphase der Pubertät, die er durchleidet, mehr noch aber an der sozialistischen Gesellschaft, in der Sex einer der wenigen von Staat und Ideologie nicht kontrollierbaren Freiräume war. Die politische Entwicklung hin zum „Prager Frühling“ des Jahres 1968 bis zu dem Zeitpunkt, als russischen Panzer diesem ein Ende setzten, läuft in Faktors Erinnerungsroman denn auch eher im Hintergrund, obwohl bei seiner Mutter, einer Zeitschriftenredakteurin, Intellektuelle wie Eduard Goldstücker ein und aus gehen und selbst Theodor W. Adorno während eines Kongresses erotische Ambitionen anmeldet.

Für Georg hat Freiheit vor allem mit dem „dauerhaft vorhandenen Samendruck“ zu tun. Weil er überall ein großes Orgasmusversprechen wahrnimmt und „alle weiblichen Hüftbewegungen zum Sex im nächsten Fünfjahrplan einluden“, wird er zu einem gelegentlich unangenehm auffallenden Gaffer, der selbstvergessen weiblichen Reizen nachsinnt. Den Frauen gegenüber verhält er sich ähnlich wie gegenüber den Dingen: als Ingenieur mit dringlichem Verbesserungsbedürfnis.

Die erlebte Sexualität kann mit den Utopien nicht mithalten – da geht es ihr ähnlich wie dem Politischen. Die Beziehung zu Dana, einer älteren Familienfreundin, ist eher ungewöhnlich. Dana arbeitet als Bildhauerin in einem kleinen Haus auf dem Land, in dem sie auch ein Sanatorium für verletzte Tiere unterhält. Ihr Haushalt ist von Dreck, Verwesung, Ungeziefer und Fäulnis gezeichnet. Für Georg ist das kein Grund, sich bei dem in der Küche vollzogenen Koitus zu ekeln. Und wenn schon: Alles Unappetitliche betrachtet Georg wie einen Komposthaufen als „Lieferant von Nährstoffen“.

So ist auch das erzählende Erinnern eine Art Gärungsprozess, also ein Zersetzungsvorgang. Das ist naturgemäß subversiv, ohne Erklärungen oder gar Psychologie zu benötigen, und bringt eine angenehm unsentimentale, neugierige Betrachtungsweise von Menschen und Dingen mit sich. „Ich erweiterte mein Seelenleben vorsorglich auf die Dinge selbst“, erklärt Georg, was dazu führt, dass er dauernd damit beschäftigt ist, „die Umwelt in der Phantasie zu reparieren“. Georg ist als Erzähler immer der Ingenieur mit technischem Spezialinteresse. Als Leser muss man da gelegentlich Geduld mitbringen. Stalins Wort von den Schriftstellern als „Ingenieuren der Seele“ bekommt damit aber eine zeitgemäße Nutzanwendung

Jan Faktor: „Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010, 640 Seiten, 24,95 Euro