Die Geschichte im Crescendo

ATONAL Das Prunkstück im neu aufgelegten Atonal-Festival ist mit dem Kraftwerk der Ort – Glenn Branca sorgte für die Magie

■ Das am Donnerstag mit der von Frieder Butzmann intonierten „Ursonate“ von Schwitters eröffnete Atonal-Festival im Kraftwerk, Köpenicker Straße 70, geht noch bis Mittwoch mit Installationen, Aftershows und Konzerten, die um 20 Uhr beginnen. Am Abschlusstag spielt das orchestral aufgestockte Brandt Brauer Frick Ensemble. www.berlin-atonal.com

VON ANDREAS HARTMANN

Dieses Gebäude, in dem das wiederbelebte Atonal-Festival stattfindet, schlägt einen sofort in seinen Bann. Das „Kraftwerk“ getaufte ehemalige Elektrizitätswerk an der Köpenicker Straße, direkt neben dem heutigen Tresor, ist eine gigantische Kathedrale, eine Industrieruine mit morbider Aura, einfach der perfekte Ort, um es dort mit einer Neuauflage dieses für Berlin historisch so bedeutsamen Festivals zu versuchen.

Atonal: Keines der in letzter Zeit zahlreich erschienenen Bücher, die sich mit dem Berlin der achtziger und neunziger Jahre beschäftigen, um zu erklären, wie diese Stadt zur Partyweltzentrale wurde, die sie heute ist, kommt um diese die Achtziger in Berlin prägende Festivalreihe herum. Dimitri Hegemann rief sie 1982 ins Leben – und stellte das Atonal wieder ein, als er kurz nach dem Fall der Mauer den Technoclub Tresor gründete.

Die Geschichte des Festivals zeigt historisch auf, dass Techno vielleicht doch nicht die totale Absage war an alles vor ihm, wie das oft behauptet wird. Vielmehr lässt sich rein musikalisch eine Genealogie finden, die von Industrial-Bands wie Psychic TV oder Test Dept, die beide beim Atonal-Festival auftraten, zu Techno führt. Alte Techno-Veteranen erzählen sich außerdem auch heute noch gerne, wie sie die sagenumwobenen Final Cut beim Atonal gesehen haben, die frühe Industrial-Band von Jeff Mills, dem längst weltberühmten Techno-DJ aus Detroit.

Neuausgabe gut kuratiert

Von Atonal zum Tresor, das ist eine spannende Geschichte. Und diese, so scheint es, soll nun auch im Spannungsfeld der direkten Nachbarschaft vom Tresor zum Atonal-Spielplatz Kraftwerk neu interpretiert werden. Dabei erweist es sich nicht unbedingt als leicht, den radikalen Gestus des ursprünglichen Atonal-Festivals neu zu beleben, schließlich hat Berlin mit dem Club Transmediale inzwischen ein neues Festival, auf dem jährlich ausgesucht sperrige und avantgardistische Klänge zu hören sind. Dass ein Festival wie das Atonal in Berlin gefehlt hätte, lässt sich also kaum behaupten, auch wenn das Programm der ersten Atonal-Neuausgabe wirklich exzellent kuratiert wurde.

Der Vorteil des neuen Atonals ist dann aber sein Standort. Während der Club Transmediale in den letzten Jahren nomadisch umherziehen musste, geht das Atonal 2013 in dieser eindeutig eindrucksvollsten Konzerthalle Berlins über die Bühne, die für das Festival noch extra aufgehübscht wurde. Überall gibt es kleine Lounges in dem verwinkelten Gebäude und draußen einen kleinen Garten, der bei den Temperaturen gerne frequentiert wird.

Techno war vielleicht doch nicht die totale Absage an alles vor ihm

In den nächsten Tagen wird man im Kraftwerk alte Industrial-Recken wie Z’ev erleben können, der auch schon in frühen Atonal-Jahren aktiv war, und jede Menge jüngere Acts, für die es ganz selbstverständlich ist, den alten Atonal-Geist mit der Tresor-Tanzkultur kurzzuschließen, und die musikalisch in einer Art Schattenreich der heutigen Clubkultur angesiedelt sind, etwa Actress, Raime, Russell Haswell, Rashad Becker und viele mehr.

Man kann gespannt sein, ob sie es vermögen, eine ähnliche Magie in die riesige Halle zu bringen wie Glenn Branca bei seinem Eröffnungskonzert am Donnerstag, das gleich einen ersten Höhepunkt markiert. Lange habe er auf diesen Moment gewartet, sagt Dimitri Hegemann nach dem Konzert von Branca, und wie ihm geht es wohl einigen im Publikum, denn Branca ist wirklich keiner, der ständig in Berlin zu sehen ist. Der Mann hat den Sound von Sonic Youth, immerhin eine der einflussreichsten Rockbands der letzten dreißig Jahre, vorweggenommen oder sagen wir doch gleich: erfunden.

Diese Gitarreneruptionen, diese ewigen Crescendi und Decrescendi, wie sie von Legionen von krachigen Rockbands gepflegt werden, all das geht auf Branca zurück. Der führt nun zwar auch schon seit 30 Jahren ähnlich geartete Gitarrensinfonien auf, doch ihm dabei zuzusehen, wie er sein Sextett inklusive Schlagzeugerin dirigiert, als sei er Leonard Bernstein in der Carnegie Hall, ist ziemlich bewegend. Wie Hornissenschwärme füllen die an- und abschwellenden Gitarrenklänge den riesigen Raum, und Branca, ein bauchiger und verschwitzter Zausel, bewegt dazu die Hüften wie ein Teenager und fuchtelt wie wild mit den Armen herum. „Was für eine Show!“, sagt Dimitri Hegemann danach, sichtlich bewegt. Und bestimmt froh darüber, dass das Atonal 2013 gleich solch einen gelungenen Einstand hat.