: Ganz modern vor Jurten sitzen
Die Gratwanderung zwischen Kunst und – vermeintlicher – Folklore ist allgegenwärtig und durchaus gewollt: Zum dritten Mal bereits präsentiert die Hamburger Kampnagelfabrik das Performance-Festival „Polyzentral“
Tanz und Theater der Peripherie zu präsentieren ist Ziel des heute zum dritten Mal in der Hamburger Kampnagelfabrik startenden Festivals „Polyzentral“. Leiter ist Honne Dohrmann, vormals Kurator des Festivals Tanz Bremen. Wir sprachen mit ihm über Kunst und Folklore.
taz: In diesem Jahr treten bunt gewandete TänzerInnen und MusikerInnen aus der Türkei, dem Mittleren Osten und Zentralasien auf. Theaterschamanen und Obertonsänger sind vertreten. Wird Polyzentral zum Folklorefestival?
Honne Dohrmann: Mir geht es nicht darum, Klischees zu bedienen, sondern eine Momentaufnahme der dortigen gesellschaftlich-künstlerischen Situation zu zeigen. Denn all diese Gruppen nutzen zwar traditionelle Formen – aber nur, um aus ihnen eigenständige Arbeiten zu destillieren. Sie überprüfen die Tradition genauestens auf ihre Bedeutung für die Gegenwart. Und für die Ex-Sowjet-Republiken ist das ein sehr wichtiges Thema, weil ihre Kulturen vor dem Fall des Eisernen Vorhangs vielfach unterdrückt wurden.
Wie wollen Sie den Westeuropäer davon abhalten, den kasachischen „Theaterschamanen“ als Folklore zu betrachten?
Ich habe solche vermeintlich „exotischen“ Künstler bewusst eingeladen. Denn die zeitgenössische Kunstproduktion dieser Region ist zu Unrecht wenig bekannt – und kann den Westen etwas Wichtiges lehren: den Perspektivwechsel, auf den die „Polyzentral“-Festivals ja immer zielen: Was betrachtet die kasachische oder usbekische Kunstszene als modern? Fragen, die auch deshalb interessieren, weil Künstler in vielen dieser Länder restriktiv behandelt werden.
Gibt es zwischen Künstlern aus autoritären Regimes und dem westeuropäischen Publikum aber nicht ein Kommunikationsproblem?
Viele Künstler müssen mit Metaphern arbeiten, um die Zensur zu umgehen. Wir versuchen die Zuschauer aber in Einführungen mit der politischen und sozialen Situation im Heimatland der Künstler vertraut zu machen und so den Zugang zu erleichtern.
Wenn das aber so mühsam und mit dem Folklore-Verdacht behaftet ist: Warum beschreiten Sie diesen Weg?
Weil mir daran liegt, weiße Flecken auf der kulturellen Landkarte zu füllen und zu zeigen, dass diese Länder nicht nur schlechte Nachrichten exportieren, sondern auch moderne, experimentierfreudige Künstler.
Worin liegt das Experiment der mongolischen Musikgruppe Egschiglen, deren Outfit jedes Klischee bedient?
Dieser Eindruck täuscht. Denn Egschiglen hat vor allem zeitgenössische Kompositionen im Gepäck, und man hört deutlich, dass sie tradierte Weisen um Weltmusikalisches bereichern.
Und wie modern ist die kasachische Gruppe Roter Traktor? Auf den Vorab-Fotos sieht man Frauen in der Steppe sitzen...
Auch diese Performancer und Filmemacher prüfen Chiffren vormaliger Identität – auch die Landschaft – auf ihre Bedeutung für die heutige, sich transformierende Gesellschaft. Und letztlich macht der subtile Übergang von der Tradition zur Moderne solche Arbeiten reizvoll.
Den Grat zwischen Religion und Kunst beschreitet der Tanz der Derwische des türkischen Galata Mevlevi Ensembles. Wo verläuft die Linie zwischen Ritual und modernem Tanz?
Der zeitgenössische Tänzer Ziya Azazi nutzt die tradierten Formen, reichert sie um moderne Elemente an und transformiert sie in zeitgenössischen Tanz.
Aber diese Tänze der islamischen Sufis sind ein religiöses Ritual. Wie bringt man das in eine Kunstform, ohne die Gläubigen zu erzürnen?
Die Sufis sind eine sehr aufgeschlossene Richtung des Islam. Die so genannten Mönche, die mit Ziya Azazi den Abend teilen werden, gehen ganz normalen Berufen nach. Und der Sheik – ihr Abt sozusagen –, sagt, eine solche Aufführung sei kein Problem.
Interview: Petra Schellen