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Archiv-Artikel

„Statusgewinn als Mutter“

Türkischstämmige Mütter verbinden Selbstverwirklichung und familiäre Orientierung, sagt Leonie Herwartz-Emden

taz: Frau Herwartz-Emden, türkische Einwandererfamilien eignen sich scheinbar hervorragend als Projektionsflächen. Einerseits existiert das Bild eines sehr solidarischen Familienzusammenhalts, andererseits das von Gewalt und Unterdrückung innerhalb strenger Familienstrukturen. Welche Rolle spielen denn die Mütter?

Leonie Herwartz-Emden: Die Forschung war über Jahre dominiert von dem Bild einer traditionellen und patriarchalisch organisierten Familie, in der die Frauen nicht im westlichen Sinne emanzipiert, sondern den Männern untergeordnet sind. Mittlerweile haben wir uns aber herausentwickelt aus dieser undifferenzierten Polarisierung: hier Moderne, dort Tradition.

Woher kam diese Betrachtungsweise?

Wir haben es sehr stark mit Projektionen zu tun. Schließlich ist dieses Bild sehr tief verhaftet in unserer Gesellschaft. Das hat viel damit zu tun, dass Fremdheit erst einmal Angst macht. Und die Medien liefern Bilder, die solche Ängste wachrufen: Verschleierte Frauen, die hinter ihren Männer hergehen; Witwen, die verbrannt werden; Mädchen, die Zwangsehen eingehen müssen.

Welche Konzepte von Mutterschaft haben Sie denn vorgefunden bei Einwanderinnen aus der Türkei?

Unser zentrales Ergebnis war, dass das Selbstkonzept türkischer Frauen im Vergleich zu einheimischen sich durch eine sehr starke Familienorientierung auszeichnet. Diese steht aber einer beruflichen Orientierung keineswegs entgegen. Es gibt keinen Gegensatz zwischen dem Anspruch auf Selbstverwirklichung und dieser familiären Orientierung – beides gehört zusammen. Muttersein hat dabei einen ganz hohen Stellenwert.

Woran liegt das?

Mit dem Status Mutter ist ein Statusgewinn verbunden – anders als in der deutschen Gesellschaft, wo man über das Muttersein einfach im gesellschaftlichen Nichts verschwindet. Wir leben in einer Gesellschaft, wo Muttersein keinen Wert mehr hat. Welche Frau kann mit Stolz von sich sagen: „Ich bin Mutter?“ Die türkischen Frauen haben sich dadurch ausgezeichnet, dass sie ein sehr integriertes Selbstkonzept in Bezug auf Mutterschaft haben.

Sind das mitgebrachte Konzepte oder verändern die sich durch Migration?

Solche Selbstkonzepte sind durch Sozialisation sehr tief verankert, und sie sind sehr kulturspezifisch. Im Falle der Zuwanderer aus der Türkei sind sie verankert in Familienmodellen, die stark an Kollektiven orientiert sind. Die deutsche Gesellschaft ist dagegen stärker an Individuen orientiert. Das heißt, die jungen Zuwanderinnen sehen sich hier den Herausforderungen dieser Individualisierung ausgesetzt. Sie erfahren die Abwertungen, die man hier erlebt als Hausfrau und Mutter. Dass man kämpfen muss, um gesellschaftliches Ansehen zu gewinnen.

Das hört sich für mich als berufstätige Mutter an, als könnten wir von diesen Konzepten lernen?

Unbedingt. Wir haben sechs Jahre lang in einem interkulturellen Team von Frauen Forschungsarbeit gemacht. Unsere Ergebnisse haben uns selbst überrascht. Wir haben festgestellt, dass es so eine Art nichtwestliche Modernität gibt im Selbstkonzept als Mutter und Frau und dass uns Zuwanderinnen, auch Aussiedlerinnen, da mit großer Selbstverständlichkeit vorangehen.

Halten Sie die Anstrengungen für sinnvoll, die speziell für die Integration von zugewanderten Müttern unternommen werden?

Projekte wie Sprachkurse sind pragmatisch betrachtet immer sinnvoll: Je mehr Kinder Deutsch sprechen, desto besser. Auf der anderen Seite finde ich diese Maßnahmen schwierig, weil sie eine Verantwortung, die eigentlich eine gesellschaftliche ist, an die Mütter zurückdelegieren. Gerade die türkischen Mütter sind immer schuld daran, dass ihre Kinder kein Deutsch können. Man muss aber sehen, dass das ein gesellschaftliches Versagen, ein komplettes Versagen der Integrationspolitik ist. Die aktuelle Misere haben nicht türkische Mütter zu verantworten.

INTERVIEW: ALKE WIERTH